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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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ihres Sieges.
    Seit einer Woche hatte sich der Gedanke in ihr festgesetzt, als hätte ein, Gott weiß woher gekommener Hammerschlag einen Keil in ihr Gehirn getrieben. Jene zu tödten, damit sie nicht mehr vorüberkommen und nicht gemeinsam nach Paris reisen könnten. Sie überlegte nicht weiter und handelte ganz nach dem Zerstörungsinstinct einer Wilden. Wenn ein Dorn in ihrer Haut stak, riß sie ihn heraus und hätte es einen Finger gekostet. Tödten wollte sie sie, tödten, sobaldsie wieder einmal vorüberkämen; sie wollte einen Balken über das Geleise legen oder eine Schiene ausreißen, damit der Zug entgleiste und alles zerbrach und erstickte. Ihm, der seine Locomotive sicher nicht verließ, würden die Glieder zerquetscht werden und sie, die immer in dem ersten Waggon saß, um ihm so nahe als möglich zu sein, würde gewiß nicht davon kommen; an die Andren, diese stete Fluth der Menschheit, dachte sie gar nicht. Das war für sie Niemand, denn sie kannte ja Keinen. An diese Entgleisung des Zuges, an diese Opferung so vieler Menschenleben dachte sie Stunde für Stunde, diese eine Katastrophe voller Blut und menschlicher Schmerzensschreie war gerade groß genug, um ihr von Thränen geschwollenes, überlastetes Herz darin baden zu können.
    Aber am vergangenen Freitag Morgen hatte sie sich zu schwach gefühlt, sie war auch noch nicht entschlossen, wo oder wie sie eine Schiene ausheben sollte. Aber am selben Abend noch, als ihr Dienst vorüber war, fiel es ihr ein, durch den Tunnel bis zur Abzweigung nach Dieppe zu streifen. Dieser unterirdische, über eine halbe Meile lange Weg durch diese gewölbte, gradlinige Allee, wo sie das Gefühl hatte, als rollten die Züge mit ihrem blendenden Signallicht über ihren Körper fort, bildete einen ihrer Lieblingsspaziergänge: oft genug war sie nahe daran, von einer Maschine erfaßt zu werden, und gerade diese Gefahr lockte sie, die gern die Heldenmüthige spielte, immer von neuem an. Als sie aber an diesem Abend der Aufmerksamkeit des Bahnwärters entgangen war und sich auf der linken Seite bis zur Mitte des Tunnels vorgewagt hatte, so daß jeder ihr entgegenkommende Zug rechts an ihr vorüberfahren mußte, beging sie die Unklugheit, sich umzusehen, um den Schlußlaternen eines nach Havre gehenden Zuges folgen zu können. Als sie weiter ging, that sie einen falschen Schritt, sie dreht sich dabei um sich selbst und wußte nun nicht mehr, in welcher Richtung die rothen Laternen verschwunden waren. Ihr von dem Donner der Räder ohnehin betäubter Muth schwand diesmal ganz, ihre Hände waren kalt wie Eis und ihre entblößten Haare sträubten sich vor Schreck. Wenn jetzt abermals ein Zug vorüberkam, wußte sie nicht mehr, ob er hinauf oder hinunter fuhr, ob sie sich rechts oder links halten sollte und sie konnte im Handumdrehen überfahren werden. Mit Gewalt zwang sie sich, ihre Sinne zusammeln, sich zu erinnern, zu überlegen. Plötzlich aber jagte sie der Schreck auf und davon und wie toll galoppirte sie in der Richtung ihrer Augen. Nein, sie wollte sich nicht tödten lassen, wenigstens nicht eher, bis Jene getödtet waren! Ihre Füße verwickelten sich in die Schienen, sie glitt aus, fiel, sprang auf und rannte noch heftiger. Der Tunnelwahnsinn war über sie gekommen, die Mauern schienen auf sie einzudringen und sie zerquetschen zu wollen, die Wölbung hallte von einem unerklärlichen Getöse, Drohstimmen und fürchterlichem Brummen wieder. Alle Sekunden wandte sie den Kopf zurück, denn sie glaubte in ihrem Nacken den glühenden Athem einer Locomotive zu verspüren. Zweimal ließ eine plötzliche Gewißheit, daß sie sich täuschte und auf der Seite, wohin sie lief, getödtet werden würde, sie mit einem Sprunge die Richtung ändern. Und sie lief und lief, bis vor ihr in der Ferne wie ein Stern so winzig ein rundes, sich schnell vergrößerndes, flammendes Auge auftauchte. Sie mußte mit aller Mühe den Wunsch, abermals umzukehren und davonzulaufen, niederkämpfen. Das Auge wurde ein Gluthmeer, der Schlund eines gefräßigen Ofens. Unbewußt und halb geblendet war sie nach rechts gesprungen. Der Zug rollte wie ein Donner vorüber und wickelte sie in den mit ihm kommenden Sturmwind ein. Fünf Minuten später kam sie auf der Seite nach Malaunay gesund und unversehrt aus dem Tunnel heraus.
    Es war neun Uhr, einige Minuten später mußte der Pariser Eilzug kommen. Sie war die zweihundert Meter bis zur Gabelung nach Dieppe in gewöhnlichem Schritt weitergegangen und prüfte

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