Die Bestie im Menschen
wechseln. Die beiden Betten in dem engen Zimmer berührten sich fast. Lange lagen sie noch mit offenen Augen wach, und Jeder lauschte auf die Athemzüge des Andern.
Am Montag sollte in Rouen die Verhandlung in Sachen Roubaud ihren Anfang nehmen. Es war das ein Triumph für den Untersuchungsrichter, Herr Denizet, denn man zögerte in der juristischen Welt nicht mit Lobspenden über die Art und Weise, wie er diese verwickelte, dunkle Sache geleitet hatte: es wäre ein Meisterwerk seiner Analyse, so sagte man, eine logische Rekonstruirung der Wahrheit, mit einem Worte eine wahrhaftige Schöpfung.
Einige Stunden nach der Ermordung Séverine’s traf Herr Denizet in la Croix-de-Maufras ein und ließ Cabuche verhaften. Alles lenkte den unzweifelhaften Verdacht auf ihn, seine Besudelung mit dem Blute, die erdrückenden Aussagen Roubaud’s und Misard’s, die erzählten, wie sie ihn allein mit dem Leichnam in höchster Verwirrung angetroffen hatten. Befragt und gedrängt zu sagen, wie er in dieses Zimmer gelangt sei, stotterte der Kärrner eine Geschichte zurecht, die der Richter achselzuckend anhörte, ihm schien es eine Ausflucht, ein klassisches Märchen. Er erwartete diese immer gleiche Geschichte von dem sagenhaften Mörder, von dem erdachten Schuldigen, den der wirkliche Schuldige durch die dunkle Landschaft davongaloppiren gehört haben wollte. Dieser Wärwolf war gewiß schon weit, wenn er noch immer lief. Als man ihn fragte, was er in so später Stunde vor dem Hause zu suchen hatte, zögerte Cabuche und gab schließlich zur Antwort, er sei noch ein wenig spazieren gegangen. Das war geradezukindlich. Wie sollte man an diesen geheimnißvollen Unbekannten glauben, der erst mordete, dann auskniff, alle Thüren offen ließ und nicht einmal irgend einen Gegenstand, nicht einmal ein Taschentuch entwendet hatte. Von wo sollte er gekommen sein? Warum sollte er gemordet haben? Der Richter wußte schon von Anbeginn der Untersuchung von der Liebschaft zwischen Séverine und Jacques, und war sich darüber nicht recht klar, womit Letzterer seine Zeit ausgefüllt hatte. Aber sowohl der Beschuldigte selbst sagte, daß er Jacques nach Barentin zum Zuge um vier Uhr vierzehn Minuten begleitet hätte, als auch die Wirthin in Rouen schwor bei allen Göttern, daß der junge Mann nach dem Essen sich sofort auf sein Zimmer begeben, und daß er dasselbe erst am folgenden Morgen gegen sieben Uhr verlassen habe. Und dann schlachtete ein Liebhaber nicht die von ihm angebetete Frau, mit der er nie einen Streit gehabt, ohne Weiteres ab. Das wäre geradezu absurd. Nein, es gab nur einen einzigen vermuthlichen Mörder, einen eigenthümlichen Mörder und das war der dort vorgefundene einfältige Verbrecher mit den rothen Händen, dem Messer zu seinen Füßen, dieses brutale Thier, das dem Gericht Geschichten einreden wollte, bei denen man im Stehen einschlafen konnte.
Aber an diesem Punkte angelangt, fühlte sich Herr Denizet trotz seiner Ueberzeugung und seiner feinen Nase, die er wie er sagte, ihn besser bediente, als jeder Beweis, doch noch etwas unsicher. Bei einer ersten Haussuchung in dem zerfallenen Gemäuer des Verhafteten im Walde von Bécourt hatte man nichts auffälliges gefunden. Ein Diebstahl konnte also nicht die Veranlassung zum Morde gewesen sein, es mußte nach einem anderen Beweggrund geforscht werden. Plötzlich führte ihn Misard zufällig während des Verhörs auf den richtigen Weg, indem erzählte, daß er gesehen hätte, wie Cabuche eines Nachts über die Mauer geklettert sei, um durch das Fenster ihres Zimmers Frau Roubaud beim Entkleiden zu beobachten. Jacques wurde ebenfalls gefragt und sagte ohne Zaudern, was er von der stummen Anbetung des Kärrners, von dem glühenden Verlangen, mit dem er sie verfolgte, von seinen Handreichungen wußte. Ein Zweifel war also nicht mehr möglich: eine bestialische Leidenschaft hatte Cabuche zu dem Verbrechen gedrängt. Alles andere ergab sich von selbst:der Mann war durch die Thür zurückgekehrt, zu der er wahrscheinlich einen Schlüssel besaß, hatte dieselbe in seiner Verwirrung offen gelassen, dann folgte der Kampf, der mit Mord endete, schließlich die Nothzüchtigung, die durch die Ankunft des Gatten gestört wurde. Nur eines war auffallend. Warum hatte der Mensch, der doch von der bevorstehenden Ankunft des Mannes wußte, gerade diese Zeit gewählt, in der er jeden Augenblick von diesem überrascht werden konnte? Aber bei reiflicher Ueberlegung wirkte auch dieser Umstand
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