Die Bestie im Menschen
belastend für den Angeklagten; man konnte annehmen, daß er in der Krisis brennenden Verlangens gehandelt habe, in dem Wahn, daß er Séverine, die am folgenden Tage abreisen wollte, nie wieder allein in diesem einsamen Hause begegnen würde, wenn er nicht diese Minute benutzte. Von diesem Augenblick an stand die Ueberzeugung des Richters unerschütterlich fest.
Mit Verhören vielfach gequält, ein- und ausgespannt in die Folter spitzfindiger Fragen, blieb Cabuche hartnäckig bei seiner ersten Behauptung. Er habe sich in der frischen Nachtluft auf der Landstraße ergangen, als ein Individuum in solcher Hast an ihm vorbeigestürmt sei, daß er nicht einmal zu sagen wußte, in welcher Richtung er in die Finsterniß hineingelaufen wäre. Es habe ihn eine Unruhe gepackt, er habe nach dem Hause geblickt und gesehen, daß die Thür weit offen stand. Er habe sich endlich entschlossen hinaufzusteigen und die Todte noch warm auf dem Fußboden liegend gefunden; sie hätte ihn mit ihren großen Augen so fragend angeblickt, daß er noch Leben in ihr vermuthete und sie auf das Bett trug, dabei hatte er sich mit Blut befleckt. Etwas anderes wußte er nicht, er wiederholte immer nur dieses eine und änderte nichts daran, so daß es wirklich aussah, als hätte er sich schon vorher diese Geschichte zurechtgereimt. Wenn man ihn herauszulocken versuchte, verwirrte er sich und schwieg wie ein beschränkter Mensch, der darüber hinaus nichts versteht. Als Herr Denizet ihn zum ersten Male über seine Liebe zu dem Opfer ausfragen wollte, wurde er sehr roth, wie ein junger Mensch, den man bei seiner ersten Liebschaft ertappt. Er leugnete alles und bestritt je von dem Besitz dieser Dame geträumt zu haben, denn dieses zärtliche, heimliche Gefühl, über welches er Niemandem Rechenschaft schuldigwar, schlummerte tief in seinem Herzen. Er hätte sie nie geliebt, sie nie begehrt, man sollte ihm nie damit kommen. Jetzt, nun sie todt war, schien es ihm wie eine Entheiligung. Aber dieses Ableugnen einer Thatsache, für welche mehrere Zeugen eintraten, machte ihn noch verdächtiger. Nach dem Sinne der Anklage hatte er natürlich ein Interesse daran, das wilde Verlangen nach der Unglücklichen zu verheimlichen, die er getödtet hatte, um sich an ihrem Besitz zu berauschen. Als der Richter alle Beweise beisammen hatte und den Hauptschlag gegen ihn führte, als er ihm die Anklage, gemordet und genothzüchtigt zu haben, direct in’s Gesicht schleuderte, kannte seine Wuth keine Grenzen. Er sollte sie getödtet haben, um sie zu besitzen, er, der sie wie eine Heilige verehrte? Die herbeigerufenen Gensdarmen mußten ihn halten, denn er sprach davon, dieses verfluchte Loch in Grund und Boden schlagen zu wollen. Er war ein heimtückischer Schurke schlimmster Sorte, aber gerade seine Heftigkeit dokumentirte an seiner Statt das von ihm geleugnete Verbrechen.
So weit war die Untersuchung gediehen, der Verhaftete war in Wuth gerathen und hatte jedesmal, wenn man auf den Mord zu sprechen kam, behauptet, daß es der Andre, der geheimnißvolle Flüchtling gewesen sei, als Herr Denizet einen Fund machte, der die Sache ganz auf den Kopf stellte und ihre Wichtigkeit verzehnfachte. Wie Herr Denizet sagte, witterte er die Wahrheiten. So bewog ihn auch eine Art Vorgefühl, persönlich eine zweite Haussuchung in Cabuche’s Höhle vorzunehmen. Und dort entdeckte er hinter einem Balken einen Versteck, in welchem sich zwischen Taschentüchern und Handschuhen von Damen eine goldene Uhr vorfand, die er zu seiner größten Freude sofort erkannte: es war die einstmals so viel gesuchte Uhr des Präsidenten Grandmorin, eine starke Uhr mit zwei eingravirten Buchstaben und der Fabrikationsziffer 2516 auf der Innenseite der Kapsel. Wie ein Blitzstrahl schoß es ihm durch den Kopf, alles erhellte sich, das Einst verband sich mit dem Jetzt, die Thatsachen, wie er sie aneinander reihte, entzückten ihn durch ihre Logik. Aber die Folgen konnten sehr weitgehende werden, deshalb erwähnte er von der Uhr noch nichts und er fragte Cabuche nur nach der Herkunft der Taschentücher und Handschuhe. Diesem schwebte einen Augenblick das Geständniß auf denLippen: ja er hatte sie angebetet und ein so heißes Verlangen nach ihr verspürt, daß er den Saum ihres Kleides hätte küssen mögen und alles stehlen, was sie liegen ließ, Schnürsenkel, Agraffen, Nadeln. Aber eine unüberwindliche Scham hieß ihn schweigen. Und als ihm der Richter doch die Uhr vorhielt, sah er sie stumpfsinnig an. Er
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