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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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unten auf dem Bürgersteig. Seine Laune wurde durch ihren Anblick keine bessere.
    »Da sind Sie endlich!« rief sie, als sie ihn aus dem Einfahrtsthor treten sah. »Ich fürchtete schon, mich verhört zu haben … Sie hatten mir doch gesagt an der Ecke der Rue Saussure …«
    Ohne seine Antwort abzuwarten, fragte sie, die Augen auf das Haus gerichtet:
    »Also hier wohnen Sie!«
    Er hatte ihr, ohne es ihr weiter zu sagen, als Stelldichein sein Haus bezeichnet, weil das Depot, das sie gemeinsam aufsuchen wollten, sich fast gegenüber befand. Aber ihre Frage war ihm unbequem, er bildete sich ein, sie könnte die gute Kameradschaft soweit treiben, auch sein Zimmer sehen zu wollen. Dieses war aber so dürftig möblirt und so in Unordnung, daß er sich schämte.
    »O ich wohne hier nicht, ich schlafe hier nur,« antworteteer. »Wir wollen uns beeilen, ich fürchte, der Chef wird schon fort sein!«
    Richtig, als sie vor dem kleinen Hause desselben innerhalb der Bahnhofsmauer hinter dem Depot standen, fanden sie ihn nicht mehr. Vergebens suchten sie ihn von Schuppen zu Schuppen; überall sagte man ihnen, er würde um halb fünf zurückkommen; sie würden ihn dann gewiß in den Reparaturwerkstätten treffen.
    »Gut, so werden wir wiederkommen,« erklärte Séverine.
    Als sie wieder draußen und mit Jacques allein war, meinte sie:
    »Vorausgesetzt, daß Sie frei sind, haben Sie wohl nichts dagegen, wenn ich Ihnen Gesellschaft leiste?«
    Er konnte nicht nein sagen, im übrigen übte sie, trotz der betäubenden Unruhe, die er in ihrer Nähe fühlte, auf ihn einen immer stärkeren Reiz aus, so daß das freiwillige Maulen, das er sich vorgenommen hatte, vor ihren sanften Blicken sofort entschwand. Die dort mit ihrem zarten, schlanken und geschmeidigen Körper mußte nach seiner Meinung lieben wie ein treuer Hund, den zu schlagen man auch nie den Muth hat.
    »Natürlich, ich bleibe bei Ihnen,« erwiderte er noch etwas schroff. »Wir haben aber höchstens eine Stunde Zeit … Wollen wir in ein Café gehen?«
    Sie lächelte ihn an und freute sich, ihn endlich etwas aufthauen zu sehen.
    »O nein,« rief sie lebhaft aus, »ich will mich nicht einschließen … Ich ziehe es vor, an Ihrem Arm durch die Straßen oder sonst wohin zu wandern.«
    Sie nahm ohne Weiteres seinen Arm. Jetzt, ohne den Schmutz der Fahrt, fand sie ihn sehr nett mit seiner Miene eines beurlaubten Beamten, seinem bürgerlichen Aussehen, das er mit einer Art stolzer Freiheit, wie jeder, der an das Leben unter dem freien Himmel und voll täglich zu bestehender Gefahren gewöhnt ist, zur Schau trug. Es war ihr noch nie zuvor so aufgefallen, daß er mit seinem runden, regelmäßigen Gesicht, seinem dunklen Schnurrbart auf der weißen Haut ein hübscher Mensch war, nur seine unstäten, mit goldenen Punkten gesprenkelten Augen, die sie anzublicken vermieden, beunruhigten sie nach wie vor. Warumhütete er sich, ihr in das Gesicht zu blicken, wollte er sich selbst ihr gegenüber zu nichts verpflichten und Herr seiner Handlungsweise bleiben? Von diesem Augenblick an, während sie die Ungewißheit noch peinigte und sie jedesmal mit Schaudern an das Kabinet in der Rue du Rocher denken mußte, wo sich jetzt ihr Schicksal entschied, kannte sie nur ein Ziel, diesen Mann, der ihr den Arm gab, ganz zu ihrem Sklaven zu machen und durchzusetzen, daß, wenn sie den Kopf zu ihm erhob, er seine Augen tief in die ihrigen senken mußte. Dann erst gehörte er ihr. Sie liebte ihn nicht, sie dachte nicht einmal an so etwas. Sie bemühte sich nur, ihn sich unterthänig zu machen, um ihn nicht mehr fürchten zu müssen.
    Sie spazierten durch die in diesem bevölkerten Stadtviertel unaufhörliche Fluth von Menschen einige Minuten ohne zu sprechen. Oftmals sahen sie sich genöthigt, vom Bürgersteig herunterzutreten und zwischen Wagen hindurch den Damm zu überschreiten. Bald darauf standen sie vor dem Park von les Batignolles, der um diese Jahreszeit fast verödet ist. Der von den Regengüssen am Morgen reingewaschene Himmel strahlte jetzt in sanftem Blau und unter den warmen Strahlen der Märzsonne schlugen bereits die Lilien aus.
    »Gehen wir hinein?« fragte Séverine, »das Gewühl betäubt mich.«
    Jacques wollte auch aus eigenem Antriebe in den Park, er fühlte das Bedürfniß, sie mehr für sich allein zu haben.
    »Hier oder anderswo,« meinte er. »Treten wir näher.«
    Langsam wandelten sie unter den blätterlosen Bäumen an den Beeten entlang. Einige Frauen trugen ihre Wickelkinder in

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