Die Bestie von Florenz
dem Tribunale versammelt hatten, um zum Mittagessen nach Hause zu gehen. Dann schlüpfte er in eine Seitenstraße, die durch krumme Gassen und um seltsame Ecken zu einem Hintereingang des Gerichtsgebäudes führte, und besuchte seinen heimlichen Freund.
Wenn Spezi ein paar spannende Details für eine Story gesammelt hatte – genug, um sicher zu sein, dass die Story gut war –, schaute er bei der Staatsanwaltschaft vorbei und tat so, als wüsste er schon alles darüber. Der Staatsanwalt, der für den Fall verantwortlich war, wollte dann unbedingt herausfinden, wie viel Spezi tatsächlich wusste, und verwickelte ihn in ein Gespräch, in dessen Verlauf Spezi durch geschickte Täuschungsmanöver und Finten Bestätigung für das bekam, was er schon gehört hatte, und auch noch den Rest erfuhr, während der Staatsanwalt seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt sah, dass der Journalist tatsächlich alles wusste.
Die jungen Anwälte und Verteidiger, die bei Gericht ein und aus gingen, waren eine letzte, unverzichtbare Informationsquelle. Sie waren verzweifelt darauf aus, ihren Namen in die Zeitung zu bringen; das war ungeheuer wichtig für die Karriere. Wenn Spezi Einsicht in eine wichtige Akte brauchte, etwa das Protokoll einer Verhandlung oder Untersuchung, bat er einen der Anwälte, sie ihm zu beschaffen, und deutete eine Erwähnung in einem der nächsten Artikel an. Wenn der Mann zögerte und das Dokument wichtig genug war, griff Spezi auch zu Drohungen. »Wenn Sie mir diesen Gefallen nicht tun, sorge ich dafür, dass Ihr Name mindestens ein Jahr lang nicht in der Zeitung erscheint.« Das war ein reiner Bluff, denn Spezi besaß diese Macht gar nicht, doch für einen naiven jungen Anwalt war das eine furchterregende Aussicht. Derart eingeschüchtert, ließen die Anwälte Spezi manchmal sogar ganze Akten einer Untersuchung mit nach Hause nehmen, die er dann über Nacht kopierte und am Morgen zurückgab.
Im Bestien-Fall mangelte es nie an Neuigkeiten. Selbst wenn es keine aktuellen Entwicklungen gab, fand Spezi immer Stoff für Artikel in Form von Gerüchten, Verschwörungstheorien und der allgemeinen Hysterie um die Morde.
Es gab reichlich wilde Gerüchte und an den Haaren herbeigezogene Theorien, die sich oft um medizinische Berufe drehten, und über alle berichtete Spezi. Eine unglückliche Schlagzeile der Nazione goss Öl ins Feuer: »Chirurg des Todes wieder da!« Der Redakteur hatte in der Metapher nur einen sensationell klingenden Aufmacher gesehen, doch viele Leute nahmen sie wörtlich, und die Gerüchte, der Mörder müsse ein Arzt sein, schlugen noch höhere Wogen. Viele Ärzte sahen sich plötzlich bösartigen Verleumdungen und polizeilichen Ermittlungen ausgesetzt.
Einige der anonymen Briefe, die bei der Polizei eingingen, waren so detailliert, dass die Beamten es als ihre Pflicht ansahen, gewisse Ärzte zu überprüfen und ihre Praxen zu durchsuchen. Sie gingen so diskret wie möglich vor, um weitere Gerüchte zu verhindern, aber in einer kleinen Stadt wie Florenz sickerte irgendwie jeder Schritt der Ermittler durch und schürte die Hysterie und die Vermutungen, der Mörder sei Arzt. Die öffentliche Meinung verfestigte sich allmählich zu einem bestimmten Bild von der Bestie: Er war ein kultivierter, gebildeter Mann aus der Oberschicht, und auf jeden Fall Chirurg. Hatte der Gerichtsmediziner nicht festgestellt, dass die Operationen an Carmela und Susanna »äußerst geschickt« durchgeführt worden waren? Hatte es nicht Gerede gegeben, der Täter hätte möglicherweise ein Skalpell dazu benutzt? Und dann war da noch die kaltblütige und berechnende Natur der Verbrechen selbst, die auf einen intelligenten und gebildeten Mörder hinwies. Ähnliche Gerüchte behaupteten, der Täter müsse ein Adliger sein. Die Florentiner hegen von alters her einen gewissen Argwohn gegenüber ihrem eigenen Adel – so sehr, dass die frühe Florentiner Republik ihnen den Zugang zu öffentlichen Ämtern versagt hatte.
Eine Woche nach den Morden im Campo delle Bartoline brach eine plötzliche Flut von Anrufen über die Polizei, La Nazione und die Staatsanwaltschaft herein. Kollegen, Freunde und Vorgesetzte eines prominenten Gynäkologen namens Garimeta Gentile verlangten eine Bestätigung dafür, wovon ganz Florenz sprach, was Presse und Polizei jedoch nicht zugeben wollten: dass er als Mörder verhaftet worden sei. Gentile war einer der prominentesten Gynäkologen der Toskana, Leiter der Klinik Villa Le Rose in der Nähe
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