Die Bestie von Florenz
Beobachtungen zu machen und nicht nur aus zweiter Hand zu berichten. Also ging er sehr widerstrebend ein paar Schritte weiter, um sich das weibliche Opfer anzusehen. Die Leiche der jungen Frau war mehr als zehn Meter weit vom Auto weggeschleift und an einer überraschend ungeschützten Stelle bearbeitet worden, wie schon bei den früheren Morden. Sie lag im Gras, die Arme über Kreuz, mit derselben Verstümmelung wie beim letzten Mal.
Die Opfer wurden vom Gerichtsmediziner Mauro Maurri untersucht, der zu dem Ergebnis kam, dass die Schnitte im Schambereich mit demselben gekerbten Messer geführt waren, das an ein Tauchermesser erinnerte. Er führte aus, dass es wie bei den vorigen Morden keine Hinweise auf eine Vergewaltigung gab, keine Spuren eines Kampfes, kein Sperma. Die mobile Ermittlungseinheit fand Hülsen der Winchester-Serie H, neun auf dem Boden und zwei im Wagen. Es stellte sich heraus, dass alle aus der gleichen Waffe wie bei den früheren Doppelmorden abgefeuert worden waren, denn sie wiesen die unverwechselbare Markierung am Rand auf, die vom Schlagbolzen stammte.
Spezi fragte den Leiter der Squadra Mobile nach der eigentlich erstaunlichen Tatsache, dass im Magazin einer Beretta Kaliber 22 nur neun Geschosse Platz haben, aber elf Hülsen am Tatort gefunden worden waren. Der Staatspolizist erklärte, dass ein geübter Schütze auch ein zehntes Geschoss in das Magazin drücken konnte, und wenn ein weiteres schon vorgeladen war, wurde damit aus einer Beretta mit neun Schuss eine mit elf.
Am Tag nach dem Doppelmord wurde Enzo Spalletti freigelassen.
Es wäre nicht übertrieben, die Reaktion der Leute auf diesen neuen Doppelmord mit dem Wort »Hysterie« zu beschreiben. Die Polizei und die Carabinieri wurden mit Briefen überschwemmt, anonymen wie unterzeichneten, denen nachgegangen werden musste. Die Briefe beschuldigten Ärzte, Chirurgen, Gynäkologen und sogar Priester, ganz abgesehen von Vätern, Schwiegersöhnen, Liebhabern und Rivalen. Bis dahin hatte Italien Serienmörder als nordeuropäisches Phänomen betrachtet, etwas, das es in England, Deutschland oder Skandinavien gegeben hatte – und natürlich in Amerika, wo Gewalttaten zehnmal so häufig und so schwer zu sein schienen. Aber doch niemals in Italien.
Junge Leute waren starr vor Angst. Die Landschaft um Florenz war nachts völlig menschenleer. Stattdessen standen die Autos nun Stoßstange an Stoßstange in gewissen dunklen Straßen in der Stadt, vor allem oben um die Basilika San Miniato al Monte, die Fenster mit Zeitungspapier oder Handtüchern verdeckt, hinter denen sich junge Liebende verbargen.
Nach diesen neuen Morden arbeitete Spezi einen Monat lang ohne Pause und verfasste in dieser Zeit siebenundfünfzig Artikel für La Nazione . Fast immer hatte er exklusive Informationen als Erster, und die Auflage der Zeitung war so hoch wie noch nie in ihrer Geschichte. Viele Journalisten begannen, ihn zu verfolgen, um seine Quellen zu entdecken.
Im Lauf der Jahre hatte Spezi zahlreiche raffinierte Tricks entwickelt, mit denen er Polizei und Staatsanwaltschaft Informationen entlocken konnte. Jeden Morgen machte er die Runde bei Gericht und in der Staatsanwaltschaft, um sich nach Neuigkeiten zu erkundigen. Er spazierte durch die Flure, unterhielt sich mit Staatsanwälten und Polizisten und pickte so Informations-Krümelchen auf. Außerdem rief er Fosco an, den Laborassistenten des Gerichtsmediziners, und fragte ihn, ob er irgendwelche interessanten Leichen auf den Tisch bekommen hätte. Er sprach auch mit einem Kontaktmann bei der Feuerwehr, die manchmal an einen Tatort gerufen wurde, um eine Leiche zu bergen, vor allem, wenn die im Wasser schwamm.
Aber Spezis beste Informationsquelle war ein kleiner Mann, der in den Eingeweiden des Gerichtsgebäudes arbeitete, ein völlig unscheinbarer Mensch mit einem unscheinbaren Job, den die anderen Journalisten vollständig übersahen. Es war seine Aufgabe, die dicken Akten zu ordnen und abzustauben, in denen Tag für Tag die Indagati aufgelistet wurden – die Leute, die überprüft oder vernommen wurden – und dazu der Grund für die Überprüfung. Spezi hatte dafür gesorgt, dass dieser kleine Angestellte ein kostenloses Abonnement der Nazione erhielt, worauf der Mann außerordentlich stolz war. Im Gegenzug erlaubte er Spezi, in den Listen zu blättern. Um diese Goldmine vor den anderen Journalisten geheim zu halten, die ihn verfolgten, wartete Spezi immer ab, bis sich die Kollegen um halb zwei vor
Weitere Kostenlose Bücher