Die Bestie von Florenz
erfuhren zu ihrem Erstaunen, dass er kein anderer als der Gerichtsmediziner war, der die Autopsie an den Leichen von Susanna Cambi und Stefano Baldi durchgeführt hatte, den jüngsten Opfern der Bestie. Zumindest sagten mehrere Hotelangestellte aus, dass sie das von Dr. Santangelo persönlich gehört hatten, als er stolz seine Tasche geöffnet und ihnen seine Instrumente gezeigt hatte.
Die Carabinieri hörten von Santangelos seltsamer Behauptung, und sie stellten rasch fest, dass er gar kein Arzt war. Sie erfuhren von seiner Vorliebe für kleine Friedhöfe und Leichenhallen und, noch alarmierender, seiner Schwäche für Skalpelle. Prompt wurde Santangelo zur Befragung abgeholt.
Der falsche Gerichtsmediziner gab freimütig zu, ein Lügner und Fabulierer zu sein, konnte aber seine Vorliebe für nächtliche Friedhofsbesuche nicht erklären. Er leugnete jedoch hitzig die Geschichte, die seine Freundin über ihn erzählte: dass er eine leidenschaftliche Liebesnacht abgebrochen hatte, um eine starke Dosis Schlaftabletten zu nehmen, mit der Begründung, dass er nur so der Versuchung widerstehen könne, das Bett zu verlassen und einen Spaziergang um die Grabsteine zu machen.
Der Verdacht, Dr. Santangelo sei die Bestie, hielt sich nicht lange. Für jede Nacht, in der einer der Doppelmorde geschehen war, gaben ihm die Angestellten seines Hotels ein Alibi. Der Arzt, so bestätigten die Zeugen, ging früh zu Bett, zwischen halb neun und neun Uhr abends, um dann um drei Uhr morgens aufzustehen, wenn die Friedhöfe nach ihm riefen. »Ich weiß, ich tue seltsame Dinge«, sagte Santangelo dem Untersuchungsrichter. »Manchmal bin ich schon auf den Gedanken gekommen, ich könnte vielleicht ein bisschen verrückt sein.«
Die Santangelo-Story war nur eine von vielen herrlich unterhaltsamen Geschichten, die Spezi als offizieller »Bestiologe« der Zeitung verfasste. Er schrieb über die vielen Medien, Kartenleser, Hellsichtigen, Geomantiker und Wahrsager, die der Polizei ihre Dienste anboten – einige von ihnen wurden sogar angeheuert und vereidigt und die Transkripte ihrer »Visionen« pflichtbewusst bezeugt, notariell beglaubigt und abgeheftet. In gutbürgerlichen Wohnzimmern in der ganzen Stadt endete mancher Abend damit, dass man sich mit seinen Gästen um einen dreibeinigen Tisch versammelte und ein kleines Glas umgekehrt darauf stellte, um dann die Opfer der Bestie zu befragen und ihre geheimnisvollen Antworten zu empfangen. Die Resultate wurden oft Spezi bei der Nazione geschickt oder der Polizei oder unter den Gläubigen begeistert herumgereicht. Parallel zur offiziellen polizeilichen Ermittlung entwickelte sich eine weitere, die bis ins Jenseits reichte und über die Spezi zur großen Belustigung seiner Leser ebenfalls berichtete. Er besuchte eigens Wahrsagerunden und Séancen auf Friedhöfen, bei denen Hellseher mit den Toten sprechen wollten.
Der Fall der Bestie erschütterte die Stadt so sehr, dass er sogar den längst verschiedenen Geist des finsteren Mönchs von San Marco, Savonarola, und seine Tiraden gegen die Dekadenz seiner Zeitgenossen wiedererweckte. Manche nutzten die Bestie, um wieder einmal gegen Florenz und seine vermeintliche moralische und spirituelle Verkommenheit, die Gier der Mittelschicht und den allgemeinen Materialismus zu wettern. »Die Bestie«, so schrieb ein Korrespondent in einem Leitartikel, »ist der lebendige Ausdruck dieser Stadt von kleinen Kaufleuten, die in der Orgie narzisstischer Maßlosigkeit ihrer Priester und Strippenzieher, ihrer aufgeblasenen Professoren, Politiker und selbsternannten Schmierfinken untergeht … Die Bestie ist ein billiger, selbstgerechter Mann der Mittelschicht, der sich hinter einer Fassade bürgerlicher Achtbarkeit verbirgt. Er ist schlicht und einfach ein geschmackloser Mann.«
Andere glaubten, die Bestie müsse tatsächlich ein Mönch oder Priester sein. Einer von ihnen schrieb in einem Brief an La Nazione , die Patronenhülsen, die an den Tatorten gefunden worden waren, seien alt und verfärbt, »weil eine alte Pistole und ein paar Patronen in einem Kloster praktisch ewig vergessen in irgendeiner dunklen Ecke hätten liegen können«. Der Briefeschreiber wies außerdem auf etwas hin, das in der Stadt bereits überall diskutiert wurde: dass der Mörder ein Priester sein könnte, der nach dem Vorbild Savonarolas den Zorn Gottes über junge Leute brachte, um sie für ihre Unzucht und Lasterhaftigkeit zu strafen. Er führte aus, das Stück von dem Weinstock, das
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