Die Bestie von Florenz
einmal begann die Staatsanwaltschaft das alte Spiel der Gerüchte und Verdächtigungen und versuchte, einen gegen den anderen auszuspielen, um irgendwo einen Riss in der Mauer der sardischen omertà zu finden.
Stattdessen taten sie einen Riss in ihren eigenen Ermittlungen auf.
Kapitel 15
Inzwischen war die Anzahl der Ermittler, die an dem Bestien-Fall arbeiteten, auf ein halbes Dutzend angestiegen, und der effektivste und charismatischste von ihnen war Piero Luigi Vigna. Er und seine Kollegen leiteten die Ermittlungen, überwachten Sammlung und Analyse von Beweisen, stellten Hypothesen zu den Verbrechen auf und erarbeiteten Strategien, um den Schuldigen zu finden. Im italienischen Rechtssystem arbeiten diese Strafverfolger unabhängig voneinander, und jeder ist für einen Teil des Falls verantwortlich – zum Beispiel für den Mord, der stattfand, als er sozusagen »Bereitschaft« hatte. (Auf diese Weise wird die Arbeit innerhalb einer Gruppe von Ermittlern verteilt, indem jeder die Fälle bearbeitet, die sich ereignen, wenn er gerade »dran« ist.) Zusätzlich gibt es einen weiteren Ermittler, einen Staatsanwalt, der den erhabenen Amtstitel pubblico ministero trägt, in etwa »Vertreter des Volkes«. Er wahrt die Interessen des italienischen Staats und tritt vor Gericht als Ankläger auf. Die Besetzung der Rollen änderte sich während der Zeit, über die sich die Morde und Ermittlungen im Bestien-Fall erstreckten, mehrmals, denn mit jeder neuen Tat kamen mehr Ermittler hinzu.
Die Aufsicht über all die Ermittler von Staatsanwaltschaft, Polizei und Carabinieri führte nach damaligem Verfahrensrecht der giudice istruttore , also »Instruktionsrichter« oder Untersuchungsrichter. Im Bestien-Fall war das Mario Rotella. Seine Aufgabe war es, die Arbeit der Polizei, der Strafverfolger und des Anklägers zu überwachen und dafür zu sorgen, dass alle Maßnahmen im Zuge der Ermittlungen vorschriftsmäßig und korrekt ausgeführt wurden und durch die Beweislage gerechtfertigt waren. Damit das System funktionierte, mussten sich alle diese Leute mehr oder weniger einig sein, was die Hauptrichtung der Ermittlungen anging.
Im Fall der Bestie waren Vigna und Rotella, der leitende Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter, zwei vollkommen verschiedene Persönlichkeiten. Es ließen sich kaum zwei Männer finden, die noch weniger zur Zusammenarbeit geeignet gewesen wären. Unter dem starken Druck, den Fall endlich zu lösen, gerieten sie natürlich bald in Streit.
Vigna hielt Hof im ersten Stock des Tribunale in Florenz in einer langen Reihe von Räumen an einem schmalen Korridor, in denen in vergangenen Jahrhunderten Mönche gehaust hatten. Jetzt dienten ihre Zellen als Büros der Staatsanwaltschaft. Hier, in diesen geheiligten Hallen, waren Journalisten stets willkommen, sie schauten zwanglos auf einen Schwatz mit den Staatsanwälten vorbei und wurden von diesen wie Freunde behandelt. Vigna selbst umgab ein beinahe mythischer Nimbus. Er hatte eine wahre Plage von Entführungen in der Toskana durch eine sehr einfache Methode beendet: Sobald jemand entführt wurde, fror der Staat augenblicklich sämtliche Bankkonten der Familie des Opfers ein und verhinderte damit die Zahlung von Lösegeld. Vigna weigerte sich, mit Personenschützern herumzulaufen, seine Privatnummer stand im Telefonbuch und sein Name auf dem Klingelschild, wie bei jedem Normalbürger – eine herausfordernde, trotzige Geste, die die Italiener bewunderten. Die Presse liebte seine kernigen Aussagen, Bonmots und trockenen Bemerkungen. Als geborener Florentiner trug er elegant geschnittene Anzüge und schicke Krawatten, und in einem Land, in dem ein schönes Gesicht sehr viel bedeutet, war er außergewöhnlich gutaussehend, mit feinen Gesichtszügen, frischen blauen Augen und einem ungezwungenen Lächeln. Seine Kolleginnen und Kollegen waren ebenso charmant. Ein brillanter neuer Staatsanwalt, Paolo Canessa, war offen und wortgewandt. Silvia Della Monica, couragiert und attraktiv, unterhielt die Journalisten oft mit Geschichten über ihre ersten Fälle. Ein Journalist, der den ersten Stock des Tribunale betrat, verließ das Gerichtsgebäude immer mit einem Notizbuch voll Neuigkeiten und pointierten Zitaten.
Der zweite Stock bestand aus den gleichen Reihen von Mönchszellen, doch die Atmosphäre war eine völlig andere. Hier regierte Mario Rotella. Er stammte aus Süditalien, womit er Florentinern von vornherein suspekt war. Sein altmodischer Schnurrbart und die
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