Die Bestie von Florenz
Brille mit dem dicken schwarzen Gestell erinnerten eher an einen Gemüsehändler denn an einen Ermittlungsrichter. Er war gebildet, kultiviert und intelligent, aber auch ein Pedant und Langweiler. Er beantwortete Fragen von Journalisten mit einem langen Sermon, anscheinend ohne dabei irgendetwas zu sagen. Seine verschachtelten Sätze voller Zitate aus der juristischen Fachliteratur ließen sich nicht ins Allgemeinverständliche übersetzen und waren oft sogar für Gerichtsreporter kaum zu verstehen. Wenn Journalisten Rotellas Abteilung verließen, nahmen sie statt eines Notizbuchs voll pikanter Details und Zitate, aus denen sich leicht ein Artikel machen ließ, einen nebligen Sumpf von Worten mit hinaus, der sich jedem Versuch widersetzte, geordnet oder für den normalen Leser vereinfacht zu werden.
Spezi hielt nach der Verhaftung von Giovanni Mele und Piero Mucciarini als der »Doppel-Bestie« eine typische Unterhaltung fest.
»Sie haben Beweise?«, fragte Spezi Rotella.
»Ja«, lautete dessen lakonische Antwort.
Spezi setzte nach, auf der Suche nach einer Schlagzeile. »Sie haben zwei Männer verhaftet. Ist es wirklich wahr, dass beide die Bestie sind?«
»Die Bestie gibt es nicht, sie ist lediglich ein Konzept. Aber es gibt jemanden, der den ersten Mord nachgeahmt hat«, entgegnete Rotella.
»War die Aussage von Stefano Mele der entscheidende Beweis?«
»Was Mele uns gesagt hat, war wichtig. Es gab darin gewisse Bestätigungen. Wir haben nicht nur einen, sondern fünf wichtige Beweise, die ich jedoch erst dann öffentlich machen werde, wenn die Zeit gekommen ist, diese beiden neuen Verdächtigen dem Gericht vorzuführen, das über sie urteilen wird.«
Diese umständlichen Formulierungen machten Spezi und seine Kollegen wahnsinnig.
Rotella gab nur ein einziges Mal eine einfache Erklärung von sich. »Zumindest eines kann ich Ihnen versichern: Die Florentiner dürfen jetzt ganz beruhigt sein.« Dass doch nicht alles zum Besten stand, wurde sogleich von einem der Staatsanwälte einen Stock tiefer belegt, der Rotella widersprach und den Journalisten verkündete, trotz allem, was sie vielleicht von oben gehört haben mochten, »würde ich jungen Leuten von ganzem Herzen nahelegen, irgendetwas anderes für ihre Gesundheit zu tun, als nachts die frische Landluft zu genießen«.
Die Öffentlichkeit und die Presse glaubten die neue Doppelbestien-Theorie nicht. Als der Sommer 1984 näher rückte, wuchs in Florenz die Anspannung. Das Spinnennetz aus schmalen Straßen und Wegen, die sich zwischen den Hügeln um die Stadt herumschlängelten, war nachts verlassen. Ein junger Berater der Stadtverwaltung reagierte auf die wachsende Nervosität mit dem Vorschlag, »Liebesdörfer« einzurichten, hübsche Plätzchen, umgeben von Gärten, die Pärchen eine gewisse Abgeschiedenheit boten – eingezäunt und bewacht. Die Idee löste einen Aufschrei der Empörung aus, und manche entgegneten, Florenz könne ebenso gut gleich öffentliche Bordelle eröffnen. Der Mann verteidigte seine Idee. »Das Dorf der Liebenden trägt der Tatsache Rechnung, dass jeder von uns das Recht auf ein angstfreies, glückliches Sexualleben hat.«
Als die ersten warmen Tage des Jahres 1984 die Stadt kitzelten, stieg die Spannung weiter. Doch inzwischen hatte die Bestie internationale Aufmerksamkeit erregt: Zahlreiche Zeitungen und Fernsehsender berichteten über den Fall, von der Times in London bis hin zur Asahi Shimbun in Tokio. Ausführliche Fernsehbeiträge wurden in Frankreich, Deutschland und Großbritannien ausgestrahlt. Das Interesse im Ausland galt nicht nur den Serienmorden an sich. Man war auch fasziniert von der eigentlichen Hauptfigur in der Geschichte der Bestie – der Stadt Florenz. Für den Großteil der Welt war Florenz kein realer Ort, an dem richtige Menschen lebten; es war ein einziges großes Museum, in dem Dichter und Künstler die Schönheit der weiblichen Gestalt durch die vielen Madonnen und die Schönheit des Männlichen durch die stolzen Davids gefeiert hatten. Für den Rest der Welt bestand die Stadt aus eleganten Palästen, Villen auf Hügeln, Gärten, Brücken, noblen Geschäften und hervorragendem Essen. Dies war keine Stadt, die man mit Schmutz, Verbrechen, lauten Straßen, verpesteter Luft, Graffiti und Drogendealern in Verbindung brachte – geschweige denn mit Serienmördern. Die Bestie enthüllte allen, dass Florenz nicht die magische Renaissancestadt aus den Touristenbroschüren war, sondern auf tragische und
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