Die Bestie von Florenz
okkulte oder satanische Sekten hinter den Morden steckten. Diverse Professoren und selbsternannte Experten, die absolut nichts von Kriminologie oder Serienmördern verstanden, gaben ihre Theorien im Fernsehen und in Zeitungsinterviews zum Besten. Ein solcher »Experte« plapperte die verbreitete Überzeugung nach, die Bestie könne Engländer sein. »Dies ist ein Verbrechen, das eher typisch für England ist, oder dessen Nachbarn Deutschland.« Ein weiterer ließ sich sehr wortreich über diese Theorie aus und schrieb in einem Leserbrief: »Stellen Sie sich London vor. Die Innenstadt. Dichter nächtlicher Nebel. Ein mustergültiger Bürger der Stadt, untadelig, angesehen, springt urplötzlich aus dem Dunkel hervor und greift ein unschuldiges junges Paar an. Stellen Sie sich die Brutalität vor, die Erotik, die Hilflosigkeit, die Qualen …«
Die guten Ratschläge wollten ebenfalls kein Ende nehmen. »Sie können den Mörder ganz leicht aufspüren und festnehmen, Sie brauchen nur an den richtigen Orten nach ihm zu suchen: In den Metzgereien und Krankenhäusern, denn offensichtlich haben wir es mit einem Metzger, Chirurgen oder Krankenpfleger zu tun.«
Ein weiterer typischer Brief: »Er ist ganz sicher Junggeselle, etwa vierzig Jahre alt. Er wohnt bei seiner Mutter, die sein ›Geheimnis‹ kennt, aber sein Priester weiß auch davon, aus der Beichte, denn der Täter geht regelmäßig zur Kirche.«
Die feministische Interpretation: »Die Bestie ist eine Frau, eine wahrhafte Virago britischer Herkunft, die an einer Schule in Florenz unterrichtet, auf die Kinder bis zum Alter von dreizehn Jahren gehen.«
Hunderte selbsternannte Privatdetektive aus ganz Italien fielen in Florenz ein, und viele von ihnen hatten die Aufklärung der Verbrechen bereits in der Tasche; manche schlichen nachts in den Hügeln um Florenz herum, bis an die Zähne bewaffnet, und suchten nach der Bestie oder posierten mit ihren Waffen für diverse furchterregende Fotos, die dann in der Zeitung abgedruckt wurden.
Es erschienen auch einige Leute im Polizeipräsidium und behaupteten, selbst die Bestie zu sein. Einer schaffte es sogar, sich in die Funkfrequenz des Florentiner Rettungsdienstes einzuschalten und zu verkünden: »Ich bin die Bestie, und ich werde wieder zuschlagen.«
Viele Florentiner waren schockiert über die Woge von Perversion, Verschwörungsdenken und schlichtem Wahnsinn, den die Morde der Bestie in ihren Mitbürgern aufrührte. »Ich hätte nie gedacht, dass es in Florenz so seltsame Leute gibt«, sagte Paolo Canessa, einer der beteiligten Ermittler.
»Meine Sorge ist«, erklärte Hauptkommissar Sandro Federico verbittert, »dass irgendwo in diesem Sumpf aus anonymem Irrsinn genau der Hinweis steckt, den wir brauchen – und wir ihn übersehen werden.«
Viele der anonymen Briefe waren auch an Mario Spezi adressiert, den »Bestiologen« der Nazione . Ein solcher Brief, in Großbuchstaben verfasst, hob sich von den anderen ab. Spezi wusste nicht, warum, aber dieser eine Brief jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Es war der einzige, der seinem Empfinden nach echt klang.
ICH BIN EUCH GANZ NAH. IHR WERDET MICH NIEMALS FANGEN, AUSSER ICH WILL ES. DIE LETZTE ZAHL IST NOCH WEIT ENTFERNT. SECHZEHN SIND NICHT VIELE. ICH HASSE NIEMANDEN, ABER ICH MUSS ES TUN, WENN ICH WEITERLEBEN WILL. BALD WERDEN BLUT UND TRÄNEN FLIESSEN. SO, WIE IHR VORGEHT, WERDET IHR NICHT WEITERKOMMEN. IHR LIEGT VOLLKOMMEN FALSCH. EUER PECH. ICH WERDE KEINE FEHLER MEHR MACHEN, DIE POLIZEI ABER SCHON. IN MEINEM INNEREN WIRD DIE NACHT EWIG DAUERN. ICH HABE UM SIE GEWEINT. RECHNET MIT MIR.
Die Erwähnung von sechzehn Opfern war etwas verwirrend, weil man damals mit dem Doppelmord bei Vicchio nur auf zwölf kam (vierzehn, wenn man die Morde von 1968 mitzählte). Das wies eher auf einen weiteren kranken Phantasten hin. Doch dann fiel jemandem ein, dass im vergangenen Jahr in Lucca ebenfalls ein Liebespärchen in einem geparkten Auto ermordet worden war. Die Waffe war keine Beretta Kaliber 22 gewesen, keine der Leichen war verstümmelt worden. Bisher hatte man das Verbrechen offiziell nicht der Bestie von Florenz zugeschrieben, doch es ist bis zum heutigen Tag nicht aufgeklärt.
Wilde Gerüchte machten in Florenz die Runde, bis ein Vorfall die öffentliche Meinung zu kristallisieren schien. Am Nachmittag des 19. August 1984, fast drei Wochen nach dem Doppelmord von Vicchio, verschwand Fürst Roberto Corsini in dem riesigen Wald um den Stammsitz seiner
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