Die Bestie von Florenz
Familie, das Schloss Scarperia, ein Dutzend Kilometer von Vicchio entfernt. Als Abkömmling der letzten überlebenden fürstlichen Linie in der Toskana entstammte Fürst Roberto einem uralten, wohlhabenden Adelsgeschlecht. Die Corsinis hatten der Welt einen Papst geschenkt, Clemens XII., und einen riesigen, wunderschönen Palast in Florenz gebaut, am Ufer des Arno. Im Palazzo Corsini hatte die Familie den prachtvollen Thron ihres Familienpapstes erhalten und darüber hinaus eine unschätzbar wertvolle Kunstsammlung aus Renaissance und Barock. Zwar war die Familie in jüngerer Zeit knapp bei Kasse gewesen – und zwar so knapp, dass im Großteil des Palazzo Corsini noch immer keine elektrischen Leitungen verlegt waren. Aber die Corsinis hatten im Lauf der Jahrhunderte gewaltigen Grundbesitz angesammelt. Robertos Großvater, Fürst Neri, prahlte gern damit, dass er zu Pferde von Florenz nach Rom reisen könne – etwa dreihundert Kilometer weit –, ohne seine eigenen Ländereien zu verlassen.
Fürst Roberto war ein barscher, schweigsamer Mann, der für das gesellschaftliche Leben und die Verpflichtungen eines Aristokraten wenig übrig hatte. Er lebte lieber im Landschloss der Familie und empfing nur einige wenige, gute Freunde. Er war unverheiratet und schien keine besonders enge Freundin zu haben. Jene, die ihn gut kannten, nannten ihn freundschaftlich »den Bären« wegen seiner barschen, einzelgängerischen Art. Andere fanden ihn einfach nur merkwürdig.
Gegen vier Uhr am 19. August 1984, einem Sonntagnachmittag, verließ Fürst Roberto einige Freunde aus Deutschland, die in seinem Schloss zu Besuch waren, und ging allein in den umliegenden Wald. Er war nicht bewaffnet, hatte aber ein Fernglas dabei. Als er bis neun Uhr am selben Abend nicht zurückgekehrt war, riefen seine besorgten Freunde seine Verwandten und dann die Carabinieri im benachbarten Borgo San Lorenzo an. Die Carabinieri und die Freunde des Fürsten durchkämmten die halbe Nacht lang den Wald. Als man die Suche vorerst einstellen musste, war noch keine Spur von Roberto gefunden worden.
Im Morgengrauen wurde die Suche auf dem gewaltigen Anwesen fortgesetzt. Ein Freund des Fürsten entdeckte einen blutigen Zweig. Der Mann arbeitete sich bis zur Schlucht eines tosenden Bachs vor und fand dort die zerbrochene Brille des Fürsten. Ein Stück weiter war das Gras rot gefärbt. Im Schlamm am Bachbett fand er das Fernglas des Fürsten. Ein paar Meter weiter lag ein erschossener Fasan. Und dann stieß der Mann auf den toten Fürsten selbst, der auf dem Bauch lag, mit der unteren Körperhälfte im Wasser; die Strömung hatte den Oberkörper ans Ufer geschoben und den Kopf in einen gespaltenen Felsbrocken geklemmt.
Der Mann drehte den Leichnam um. Das Gesicht des Fürsten war von einem Schuss aus einer Schrotflinte aus nächster Nähe bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt worden.
Neue Gerüchte verbreiteten sich wie ein Lauffeuer durch Florenz. Dass die Bestie klug, verschlagen, kaltblütig und akribisch zu sein schien, hatte einige Leute schon lange vermuten lassen, es handele sich um einen reichen Adligen. Der geheimnisvolle Mord an einem Fürsten, der als seltsam bekannt war und allein in einem düsteren, unheimlichen Schloss lebte, in ebender Gegend, wo sich gleich mehrere Morde der Bestie ereignet hatten, überzeugte viele in der Stadt sofort: Fürst Roberto Corsini musste die Bestie von Florenz gewesen sein.
Weder die Ermittler noch die Presse hatten auch nur angedeutet, der Mord an dem Fürsten Corsini stünde in irgendeinem Zusammenhang mit der Bestie von Florenz. Die öffentliche Meinung interpretierte dieses Schweigen als weiteren Beweis für die Schuld des Mannes: Natürlich würde eine so mächtige und einflussreiche Familie wie die Corsinis ihren Ruf unter allen Umständen schützen. War es da nicht praktisch, dass der Fürst, der ja die Bestie gewesen war, jetzt tot war und nicht mehr vor Gericht gestellt werden konnte, womit er dem guten Namen der Familie geschadet hätte?
Zwei Tage später gab ein geheimnisvoller Vorgang den Gerüchten neue Nahrung. Im Schloss der Corsinis war eingebrochen worden, doch anscheinend fehlte nichts. Niemand konnte sich erklären, weshalb Diebe in ein Schloss einbrechen sollten, in dem es bereits von Polizisten wimmelte, die dort einen Mord untersuchten. Gerüchteweise hieß es, dass keine gewöhnlichen Diebe eingebrochen seien, sondern Leute, die angeheuert worden waren, um gewisse wichtige und vielleicht sogar
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