Die Bestie von Florenz
denselben zwei Munitionsschachteln. Das ließ sich durch eine elektronenmikroskopische Untersuchung des »H« feststellen, das auf den Boden jeder Hülse eingestanzt war – alle »H«s wiesen dieselben mikrofeinen Unebenheiten auf, was bedeutete, dass sie von demselben Stempel gesetzt worden waren. Diese Stempel wurden regelmäßig ausgetauscht, sobald sie sich abnutzten, und anhand dessen ließ sich auch beweisen, dass beide Munitionsschachteln vor dem Jahr 1968 in den Handel gekommen waren.
Jede Schachtel enthielt fünfzig Patronen. Wenn man vom ersten Verbrechen 1968 an zählte, waren fünfzig Geschosse aus einer Schachtel abgefeuert worden. Dann hatte der Mörder eine zweite Schachtel geöffnet. Die ersten fünfzig Projektile waren aus Kupfer, die in der zweiten Schachtel aus Blei. Hinweise auf eine zweite Waffe, die an einem der Tatorte benutzt worden war, oder auf mehr als einen Täter waren nie gefunden worden. Ja, die Leichen der Opfer waren bewegt worden, indem der Täter sie über den Boden geschleift hatte, was eher darauf hindeutete, dass keine zweite Person dabei gewesen war, die hätte mit anpacken können.
Dasselbe galt für das Messer, das der Mörder benutzte. Jede fachmännische Untersuchung kam zu dem Schluss, dass ein einziges Messer benutzt worden war, extrem scharf geschliffen, mit einer besonderen Einkerbung oder Scharte und drei Sägezähnen darunter, etwa zwei Millimeter tief. Einige Experten spekulierten, es könnte eine pattada sein, das typische Messer der sardischen Hirten, doch die meisten Experten sprachen, wenn auch nicht voller Überzeugung, von einem Tauchermesser. Einig waren sich alle darin, dass die Schnitte fast identisch waren und somit von ein und derselben Person geführt worden sein mussten, einem Rechtshänder.
Und schließlich vermied die Bestie es, ihre Opfer zu berühren, sofern es nicht unbedingt nötig war. Sie zog sie aus, indem sie ihnen die Kleider mit dem Messer vom Leib schnitt. Es gab nie irgendwelche Anzeichen einer Vergewaltigung oder sexuellen Missbrauchs.
Die psychologischen Experten waren sich ebenfalls einig, was die Psychopathologie der Bestie anging. »Er arbeitet stets allein«, schrieb einer von ihnen. »Die Gegenwart anderer Menschen würde den Genuss des Täters bei seinen Verbrechen schmälern, die im Grunde sexuellen Sadismus darstellen: Die Bestie ist ein Serienmörder und handelt nur allein … Das auffällige Fehlen eines sexuellen Interesses abgesehen von der Exzision lässt an absolute Impotenz denken oder zumindest eine außerordentliche sexuelle Inhibition.«
Im September 1984 ließ Rotella endlich die »Doppel-Bestien« Piero Mucciarini und Giovanni Mele frei, die während des Doppelmords von Vicchio im Gefängnis gesessen hatten. Zwei Monate später entließ er auch Francesco Vinci, der sich während der jüngsten Morde der Bestie ebenfalls hinter Gittern befunden hatte.
Die Auswahl an Verdächtigen hatte sich somit auf einen einzigen reduziert: Salvatore Vinci. Sie ließen sein Haus observieren, vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Sein Telefon wurde angezapft. Wenn er aus der Haustür trat, wurde er oft verfolgt.
Während der Winter verstrich und der nächste Sommer näher rückte – der Sommer 1985 – baute sich bei den Ermittlern und der Bevölkerung von Florenz ein Gefühl des Grauens auf. Jeder war sicher, dass die Bestie wieder zuschlagen würde. Die neue Sonderkommission, die mit dem Fall betraut war, die Squadra Anti-Mostro, arbeitete fieberhaft, kam aber weiterhin kaum voran.
Als Francesco Vinci aus dem Gefängnis freikam, wurde Mario Spezi, der in seinen Artikeln oft an dessen Unschuld festgehalten hatte, zur Willkommensfeier in Vincis Haus in Montelupo eingeladen. Spezi nahm die ungewöhnliche Einladung an in der Hoffnung, nebenbei noch ein Interview herauszuschlagen. Auf den Tischen drängten sich scharfe Salami und würziger sardischer Schafskäse, vermentino di Sardegna und fil’e ferru , der starke Grappa der Insel. Am Ende der Party erklärte Vinci sich zu einem Interview mit Spezi bereit. Er beantwortete die Fragen zurückhaltend, klug und übertrieben vorsichtig.
»Wie alt sind Sie?«
»Einundvierzig. Glaube ich jedenfalls.«
Das Interview erbrachte nichts Neues, bis auf eine Antwort, die Spezi viele Jahre lang nicht vergessen sollte. Spezi fragte Vinci, wie er sich die wahre Bestie vorstellte.
»Er ist sehr intelligent«, sagte Vinci darauf. »Jemand, der sich nachts sogar mit
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