Die Bestie von Florenz
den Tatort in Augenschein zu nehmen und seinen Kollegen davon zu berichten. Spezi stieg unter den zornigen Blicken seiner Kollegen über das Absperrband. Als er das jüngste Grauen sah, das die Bestie angerichtet hatte, beneidete er jene Journalisten, die zurückgeblieben waren.
Das weibliche Opfer hieß Nadine Mauriot, war sechsunddreißig Jahre alt und besaß ein Schuhgeschäft in Montbéliard, Frankreich, nicht weit entfernt von der Schweizer Grenze. Sie hatte sich von ihrem Mann getrennt und lebte seit einigen Monaten mit Jean-Michel Kraveichvili, fünfundzwanzig, zusammen. Der junge Mann war ein begeisterter 100-Meter-Läufer und trainierte im Leichtathletikverein. Sie hatten eine Campingreise durch Italien gemacht und hätten am Montag wieder zu Hause in Frankreich sein sollen, zum ersten Schultag von Nadines Tochter.
Als Sabrina und ihr Freund von dem Doppelmord erfuhren, gingen sie sofort zu den Carabinieri, um zu berichten, was sie am Sonntagnachmittag, also am 8. September, dort gesehen hatten. Die junge Frau erzählte Jahre später genau dieselbe Geschichte vor einem Schwurgericht. Zwanzig Jahre später war Sabrina in einem Interview mit Spezi immer noch ganz sicher, dass sie sich nicht im Datum geirrt hatte, weil der Sonntag ihr Geburtstag gewesen war.
Ihre Zeugenaussage war von großer Bedeutung für die Festlegung des Tatzeitpunkts. Sie war entscheidend in der Frage, ob das französische Paar in der Samstagnacht ermordet worden war, worauf alle Indizien hinwiesen, oder in der Sonntagnacht, wie die Ermittler später hartnäckig behaupten würden. Ihre Zeugenaussage kam ihnen ungelegen, weshalb sie sie vollkommen ignorierten – damals und bis heute.
Es gab einen weiteren bedeutenden Hinweis darauf, dass die beiden in der Samstagnacht ermordet worden waren: Wenn sie rechtzeitig hatten zu Hause sein wollen, um Nadines Tochter an ihrem allerersten Schultag zu begleiten, hätten sie am Sonntag auf der Heimfahrt nach Frankreich sein müssen.
Der Zustand von Mauriots Leichnam an jenem Montagnachmittag war entsetzlich. Ihr Gesicht, grotesk angeschwollen und schwarz, war nicht mehr zu erkennen. Die Hitze hatte ihre grausige Wirkung getan, noch dadurch verschlimmert, dass die Leiche in dem Zelt gelegen hatte, und der ganze Körper war bereits mit Maden bedeckt.
Der Mörder hatte sich an das Kuppelzelt der beiden französischen Touristen herangeschlichen, die gerade nackt gewesen waren und sich geliebt hatten. Er hatte sich bemerkbar gemacht, indem er mit der Messerspitze einen fast zwanzig Zentimeter langen Riss in die Außenhaut geschnitten hatte – wobei er das Innenzelt jedoch unversehrt ließ. Das Geräusch musste die beiden Liebenden aufgeschreckt haben. Sie öffneten den Reißverschluss der Zeltklappe, um nachzusehen, woher es kam. Die Bestie hatte sich bereits in Position gebracht, die Waffe schussbereit, und sobald die beiden durch die Zeltklappe herausspähten, wurden sie von einem wahren Kugelhagel getroffen. Nadine war sofort tot. Vier Geschosse trafen Jean-Michel – eines ins Handgelenk, eines in einen Finger, eines in den Ellbogen, und eines streifte seine Lippe. Er war also noch relativ unversehrt.
Der junge Athlet sprang auf und stürzte aus dem Zelt, wobei er die Bestie möglicherweise umstieß, und sprintete in die Dunkelheit davon. Wenn er sich nach links gewandt hätte, wäre er mit wenigen Schritten zur Hauptstraße gelangt und vielleicht gerettet worden. Doch er spurtete geradeaus, schnurstracks auf den Wald zu. Die Bestie lief ihm nach. Jean-Michel sprang über eine Art buschige Hecke, die die Lichtung in zwei Hälften teilte, verfolgt von der Bestie. Zwölf Meter weiter hatte die Bestie ihn eingeholt, ihm die Klinge in Rücken, Brust und Bauch gestoßen und ihm dann die Kehle durchgeschnitten.
Als Spezi den Leichnam betrachtete, der immer noch unter den Büschen lag, fiel ihm auf, dass die unteren Blätter des Baumes darüber, einen Meter achtzig über dem Boden, mit Blut bespritzt waren.
Nachdem der Mörder Jean-Michel getötet hatte, war er zum Zelt zurückgekehrt. Er hatte Nadine an den Füßen nach draußen gezogen und die beiden Verstümmelungen vorgenommen – die Entfernung der Scham und der linken Brust. Dann hatte er den Leichnam wieder in das Zelt geschleift und den Reißverschluss vor dem Eingang zugezogen. Den Leichnam des Mannes hatte er unter allerhand Müll versteckt, den er auf der Lichtung aufgesammelt hatte, und ihm dann noch den Plastikdeckel eines Farbeimers
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