Die Bestie von Florenz
zittriger Stimme zu erklären, ja, er kenne Pacciani, aber sie seien nur »Picknick-Freunde«, weiter nichts. Um ja keine Fehler zu machen, hatte der Postbote diesen Satz offenbar auswendig gelernt, mit dem er ohne Rücksicht auf Relevanz fast jede Frage beantwortete. » Eravamo compagni di merende« , wiederholte er immer wieder. »Wir waren Picknick-Freunde.«
Wir waren Picknick-Freunde. Damit erfand der unglückselige Briefträger eine Wendung, die zum festen Begriff werden sollte. » Compagni di merende« ist im Italienischen inzwischen ein umgangssprachlicher Ausdruck für Freunde, die vorgeblich etwas ganz Harmloses tun, in Wahrheit aber finstere, mörderische Untaten planen. Der Begriff wurde so beliebt, dass es dazu sogar einen Eintrag in der italienischen Wikipedia gibt.
»Wir waren Picknick-Freunde«, wiederholte Vanni weiterhin auf jede Frage und hielt den Kopf gesenkt, während er sich mit zusammengekniffenen Augen in dem riesigen Gerichtssaal umsah.
Der Staatsanwalt wurde immer ärgerlicher über Vanni und seine Phrase. Vanni widerrief außerdem alles, was er in früheren Befragungen ausgesagt hatte. Er leugnete, mit Pacciani gejagt zu haben, leugnete alle möglichen Äußerungen, die er gemacht hatte, leugnete schließlich einfach alles. Er schwor, er wisse von gar nichts, und wiederholte nur laut, er und Pacciani seien Picknick-Freunde, weiter nichts. Der vorsitzende Richter verlor schließlich die Geduld. »Signor Vanni, Sie verweigern unberechtigterweise die Aussage, und wenn Sie so weitermachen, riskieren Sie, wegen Falschaussage selbst angeklagt zu werden.«
Vanni jammerte weiter: »Aber wir waren doch nur Picknick-Freunde«, während das Publikum im Gerichtssaal lachte und der Richter auf den Tisch hämmerte.
Vannis Verhalten im Zeugenstand erregte den Argwohn eines Polizeibeamten namens Michele Giuttari, der später die Ermittlungen im Bestien-Fall von Hauptkommissar Perugini übernehmen würde. Perugini war als Belohnung dafür, dass er die Bestie (das heißt, Pacciani) geschnappt hatte, auf einen großartigen Posten versetzt worden: Man hatte ihn nach Washington, D. C., geschickt, wo er als Verbindungsmann zwischen der italienischen Polizei und dem amerikanischen FBI fungierte.
Giuttari würde die Ermittlungen auf eine neue, spektakuläre Ebene bringen. Vorerst jedoch wartete er noch in den Kulissen, beobachtete, lauschte und stellte seine eigenen Hypothesen zu den Verbrechen auf.
Im Prozess gegen Pacciani kam der Tag, den die Italiener als die Wendung bezeichnen – dieser Perry-Mason-Moment, wenn ein Hauptzeuge in den Zeugenstand tritt und das Schicksal des Angeklagten besiegelt. Dieser Zeuge war im Fall Pacciani ein Mann namens Lorenzo Nesi, dünn und schmierig, mit zurückgegeltem Haar und Sonnenbrille, aufgeknöpftem Hemd, unter dem mehrere Goldkettchen im Brusthaar ruhten – ein geschmeidiger Redner und kleiner Gigolo. Ob er die Aufmerksamkeit genoss oder unbedingt Schlagzeilen machen wollte, Nesi würde zu einem wahren Serienzeugen werden, der immer dann erschien, wenn er am dringendsten gebraucht wurde, und sich plötzlich an Ereignisse erinnerte, die jahrelang begraben gewesen waren. Dies war seine Debütvorstellung; viele weitere würden folgen.
In seiner ersten, spontanen eidesstattlichen Aussage hatte Nesi behauptet, Pacciani habe vor ihm damit geprahlt, dass er nachts mit einer Pistole losgezogen war, um Fasane aus den Bäumen zu schießen. Dies wurde als weiteres belastendes Indiz gegen Pacciani angeführt, denn die Aussage zeigte, dass der Bauer, der geleugnet hatte, eine Pistole zu besitzen, eben doch eine hatte – zweifellos »die« Pistole.
Zwanzig Tage später erinnerte Nesi sich plötzlich an etwas ganz anderes.
Am Sonntagabend, dem 8. September 1985, der Nacht, in der angeblich die beiden französischen Touristen ermordet worden waren, kam Nesi von außerhalb der Stadt zurück und musste einen Umweg über die Via Scopeti vorbei an der Lichtung fahren, weil die Superstrada von Siena nach Florenz, seine übliche Route, wegen Bauarbeiten gesperrt war. (Später wurde jedoch festgestellt, dass die Bauarbeiten, die zu der Sperrung führten, erst am darauffolgenden Wochenende stattgefunden hatten.) Zwischen halb zehn und halb elf Uhr abends, erklärte Nesi, habe er etwa einen Kilometer von der Scopeti-Lichtung entfernt an einer Kreuzung halten müssen, um einem Ford Fiesta Vorfahrt zu gewähren. Der Wagen sei rosig oder rötlich gewesen, und er, Nesi, sei zu neunzig
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