Die Bestie von Florenz
Prozent sicher, dass der Fahrer Pacciani gewesen sei. Es habe noch eine zweite Person in dem Auto gesessen, die er nicht kannte.
Warum hatte er das zehn Jahre zuvor nicht erwähnt?
Nesi antwortete, damals sei er sich nur zu siebzig bis achtzig Prozent sicher gewesen, und man solle doch nur Sachen aussagen, derer man sich sicher war. Inzwischen jedoch sei er sich seiner Identifizierung zu neunzig Prozent sicher, was, so fand er, sicher genug sei, um davon zu berichten. Die Richter lobten ihn später sogar für seine Gewissenhaftigkeit.
Man würde normalerweise davon ausgehen, dass Nesi, der einen kleinen Handel mit Sweatshirts betrieb, sich nicht täuschen würde, was Farben anging. Aber er hatte sich in der Farbe von Paccianis Auto geirrt – es war nicht »rosig oder rötlich«, sondern schneeweiß. (Vielleicht dachte Nesi an den roten Alfa Romeo aus einer anderen Zeugenaussage, aus der dann auch das berüchtigte Phantombild hervorging.)
Dennoch bedeutete Nesis Zeugenaussage, dass Pacciani am Sonntagabend nur einen Kilometer von der Scopeti-Lichtung entfernt gesehen worden war, und das reichte aus, um das Schicksal des Bauern zu besiegeln. Die Richter befanden Pacciani der Morde für schuldig und verurteilten ihn zu vierzehn Mal lebenslänglich. In ihrer Urteilsbegründung erklärten die Richter Nesis Fehler damit, dass das reflektierte Bremslicht in der Nacht das weiße Auto rötlich habe erscheinen lassen. Sie sprachen Pacciani von dem Doppelmord von 1968 frei, weil die Staatsanwaltschaft keine Beweise vorbringen konnte, die ihn mit diesem Verbrechen in Zusammenhang brachten, bis auf die Tatsache, dass es mit derselben Waffe verübt worden war. Die Richter gingen jedoch nie auf die Frage ein, wie Pacciani, wenn er mit jenem Doppelmord nichts zu tun hatte, an die Waffe gelangt sein sollte.
Um neunzehn Uhr zwei am 1. November 1994 begann der vorsitzende Richter das Urteil zu verlesen. Alle landesweiten Fernsehsender Italiens unterbrachen das laufende Programm, um live zu berichten. »Schuldig des Mordes an Pasquale Gentilcore und Stefania Pettini«, hob der vorsitzende Richter an, »schuldig des Mordes an Giovanni Foggi und Carmela De Nuccio, schuldig des Mordes an Stefano Baldi und Susanna Cambi, schuldig des Mordes an Paolo Mainardi und Antonella Migliorini, schuldig des Mordes an Horst Wilhelm Meyer und Jens-Uwe Rüsch, schuldig des Mordes an Pia Gilda Rontini und Claudio Stefanacci, schuldig des Mordes an Jean-Michel Kraveichvili und Nadine Mauriot.«
Als der Richter mit Stentorstimme das letzte »Schuldig« verkündete, griff Pacciani sich ans Herz, schloss die Augen und murmelte vernehmlich: »Ein Unschuldiger stirbt.«
Kapitel 26
Eines kalten Morgens im Februar 1996 überquerte Mario Spezi den kleinen Platz vor der Carabinieri-Station des Dorfes San Casciano. Er war außer Atem, und nicht nur wegen der Gauloises, die er unablässig rauchte. Er trug einen gewaltigen, ungeheuer hässlichen Mantel in grellen Farben, mit zu vielen Reißverschlüssen, Gürteln und Schnallen versehen, die keinem Zweck dienten außer dem, die eigentliche Funktion des Kleidungsstücks zu verbergen. Ein kleiner Knopf dicht unterhalb des Kragens war ein Mikrofon. Hinter dem albernen Plastik-Abzeichen auf der Brust steckte eine Videokamera. Zwischen Außenstoff und Futter war Platz für einen Recorder, eine Batterie und die Kabel. Diese verborgenen Geräte gaben nicht das leiseste Summen von sich. Ein Techniker vom Fernsehsender hatte sie in der Collegiata di San Casciano eingeschaltet, versteckt hinter einer Säule zwischen dem Beichtstuhl und dem Taufbecken. Es war sonst niemand in der Kirche gewesen bis auf eine alte Frau, die auf einer Gebetbank kniete; der Wald aus Plastikkerzen vor ihr sandte sein elektrisches Licht gegen die Dunkelheit aus.
In den zwei Jahren seit Paccianis Verurteilung hatte Spezi in vielen Artikeln die Schuld des Bauern angezweifelt. Doch dies versprach der Knüller aller Knüller zu werden.
Die Videokamera konnte eine Stunde lang aufzeichnen. In diesen sechzig Minuten musste Spezi Arturo Minoliti, den Maresciallo der Carabinieri-Wache in San Casciano, zum Reden bringen. Er musste dem Mann die Wahrheit über die Patrone entlocken, die Perugini in Paccianis Gemüsegarten entdeckt hatte. Minoliti war als Offizier der lokalen Carabinieri-Einheit während der zwölftägigen Suche dabei gewesen; er war der einzige Zeuge für den Fund der berühmten Patrone, der nichts mit der SAM oder der Polizei zu tun
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