Die Bestie von Florenz
Gräfin. »Ich musste ihr immer wieder sagen: ›Bitte fragen Sie um Erlaubnis, ehe Sie Dinge vom Fleck räumen.‹ Sie hat ständig alles umgeräumt. Jeden Tag während der Dreharbeiten hat Niccolòs kleiner Bruder Sebastiano, der die Villa Calcinaia leitet – das ist das Anwesen der Familie im Chianti –, eine Flasche von seinem Wein hierhergebracht und sie an einer strategisch günstigen Stelle im Raum aufgestellt. Aber die Flasche hat es nie in den Film geschafft. Diese Frau hat sie ständig weggeräumt. Die Produzenten hatten eine Vereinbarung mit Seagram, nur deren Produkte zu zeigen.«
Der Graf lächelte. »Trotzdem war die Flasche bis zum Ende eines jeden Tages irgendwie entkorkt und leer. Und es war immer der beste riserva .«
Vor vielen Jahren, als Thomas Harris den Fall der Bestie von Florenz für seinen Roman Hannibal recherchierte und dazu auch Paccianis Prozess beobachtete, begegnete er Graf Capponi und wurde in den Palazzo eingeladen. Sehr viel später rief Harris den Grafen an und sagte, er wolle Hannibal Lecter zum Kurator der Capponi-Bibliothek machen – ob das in Ordnung ginge?
»Wir hielten eine Familienkonferenz ab«, erzählte der Graf. »Ich sagte ihm, wir seien einverstanden, unter einer Bedingung – dass er die Familie nicht zum Hauptgang macht.«
Niccolò und ich wurden Freunde. Wir trafen uns hin und wieder zum Mittagessen im Il Bordino, einer winzigen Trattoria hinter der Kirche Santa Felicità, die Kapelle und Krypta seiner Familie beherbergt, nicht weit von seinem Palazzo. Il Bordino war eine der letzten traditionellen Trattorien in Florenz: klein, voll und mit einer Glastheke, hinter der die Tagesgerichte ausgestellt wurden. Das trübe Innere wirkte höhlenartig mit seinen geschwärzten Wänden, den zerschrammten Holztischen und dem uralten Fliesenboden. Das Essen war durch und durch florentinisch, es gab einfache Fleisch- und Pastagerichte, serviert mit einer dicken, groben Scheibe Brot, das Ganze mit einem Glas derben Rotweins zu arbeitergerechten Preisen.
Eines Tages erwähnte ich Niccolò gegenüber, dass Mario Spezi und ich den Fall der Bestie von Florenz recherchierten.
»Ah«, sagte er höchst interessiert. »Die Bestie von Florenz. Bist du sicher, dass du dich darauf einlassen willst?«
»Das ist eine faszinierende Geschichte.«
»Ja, allerdings, äußerst faszinierend. Ich an deiner Stelle wäre sehr vorsichtig.«
»Warum, was soll schon passieren? Der Fall ist doch uralt. Der letzte Mord liegt zwanzig Jahre zurück.«
Niccolò schüttelte langsam den Kopf. »Für einen Florentiner sind zwanzig Jahre so gut wie vorgestern. Und sie ermitteln immer noch in dem Fall. Satanskulte, schwarze Messen, die Villa des Grauens … Italiener nehmen solche Sachen sehr ernst. Dieser Fall hat Karrieren begründet – und ruiniert. Pass auf, dass du und Mario mit euren Stöckchen nicht allzu energisch in diesem Natternnest herumstochert.«
»Ich werde vorsichtig sein.«
Er lächelte. »Wenn ich du wäre, würde ich mich wieder diesem wunderbaren Roman über Masaccio widmen, von dem du mir erzählt hast – und einen großen Bogen um die Bestie von Florenz machen.«
Kapitel 33
Eines schönen Frühlingstages neigte sich mein Bestien-Grundkurs dem Ende zu. Ich war mit allen bekannten Fakten vertraut und konnte mich nun als Experten in dem Fall betrachten, dem nur noch Mario Spezi und die Bestie selbst überlegen waren. Doch es gab einen Punkt, in dem Spezi sich entschlossen zurückgehalten hatte, und das war seine Meinung darüber, wer denn nun die Bestie von Florenz war.
»Eccoci qua« , sagte er, »da wären wir also: Satanskulte, blasphemische Hostien und verborgene Hintermänner. Was kommt als Nächstes?« Er lehnte sich mit einem schiefen Lächeln auf seinem Stuhl zurück und breitete die Hände aus. »Kaffee?«
»Gerne.«
Mario kippte seine kleine Tasse Espresso hinunter, eine italienische Gepflogenheit, die ich mir nie so recht angewöhnen konnte. Ich nippte meinen lieber.
»Noch Fragen?« Seine Augen blitzten.
»Ja«, sagte ich. »Was glaubst du, wer die Bestie ist?«
Spezi schnippte die Asche von seiner Zigarette. »Es ist alles da drin.« Er wies auf den Haufen Unterlagen auf dem Tisch. »Was meinst du denn?«
»Salvatore Vinci.«
Er schüttelte den Kopf. »Betrachten wir den Fall mal so, wie Philip Marlowe es getan hätte. Es geht im Grunde nur um die Beretta. Wer hat die Waffe zu dem Verbrechen von 1968 mitgebracht? Wer hat sie benutzt? Wer hat sie mit nach
Weitere Kostenlose Bücher