Die Bestie von Florenz
Zigarette und stieß den Rauch wieder aus. »In dem Bericht steht, dass der Täter vermutlich mit Anfang zwanzig zu morden begann. Unser Mann jedoch war zum Zeitpunkt des ersten Doppelmords erst fünfzehn Jahre alt.«
»Müssen wir ihn dann nicht ausschließen?«
Spezi schüttelte den Kopf. »Es ist eine Tatsache, dass viele Serienmörder überraschend jung damit anfangen.« Er ratterte die Namen berühmter amerikanischer Serienmörder und ihr Alter bei der ersten Tat herunter – sechzehn, fünfzehn, vierzehn, siebzehn. »Das erste Verbrechen neunzehnhundertvierundsiebzig hätte er beinahe vermasselt. Das war das Werk eines leicht panischen, impulsiven Anfängers. Er konnte die Tat nur durchziehen, weil er den Mann mit dem ersten Schuss getötet hatte, aber das war Zufall. Die Kugel traf ihn am Arm, wurde vom Knochen abgelenkt, trat in den Brustkorb ein und zerstörte das Herz. Die Frau hatte noch genug Zeit, aus dem Auto zu springen und wegzulaufen. Der Mörder schoss auf sie, traf sie aber nur in die Beine. Töten musste er sie mit dem Messer. Dann hob er den Leichnam hoch und trug ihn hinter das Auto. Er versuchte, sie zu schänden, konnte aber nicht. ›Sexuelle Unzulänglichkeit, Impotenz.‹ Impotentia coeundi . Stattdessen nahm er den Ast von einem Weinstock und schob ihn ihr in die Vagina. Er blieb bei der Leiche und liebkoste den Körper mit dem einzigen Instrument, das ihm Erregung verschaffte, seinem Messer. Er fügte der Leiche siebenundneunzig Stichwunden zu. Wahrscheinlich wollte er sich an ihr vergehen, konnte aber nicht. Er hat die Schnitte vor allem um die Brüste und im Schambereich gemacht, als wollte er damit unterstreichen, dass sie jetzt ihm gehörte.«
Lange herrschte Schweigen in dem kleinen Esszimmer. Das Fenster am Ende des Tisches ging auf ebenjene Hügel hinaus, in denen die Bestie gelauert hatte.
»In dem Bericht steht, dass die Bestie ein eigenes Auto besaß. Der Mann hatte ein Auto. Die Morde wurden an Orten verübt, wo er sich gut auskannte, in der Nähe seines Hauses oder seiner Arbeitsstelle. Wenn man das Leben und die alltäglichen Bewegungen unseres Verdächtigen auf der Karte nachvollzieht, sieht man, dass er jeden einzelnen Tatort gut gekannt haben muss oder ganz in der Nähe wohnte.«
Mario tippte wieder mit dem Zeigefinger auf den Tisch. »Wenn ich doch nur die Anzeige dieses Einbruchs finden könnte.«
»Lebt er noch?«, fragte ich.
Spezi nickte. »Ich weiß sogar, wo.«
»Hast du je mit ihm gesprochen?«
»Ich habe es versucht. Einmal.«
»Und?«, fragte ich schließlich. »Wer ist es?«
»Willst du das wirklich wissen?« Mario zwinkerte mir zu.
»Verdammt noch mal, Mario!«
Spezi zog kräftig an seiner Gauloises und blies den Rauch langsam wieder aus. »Die Person, die Salvatore Vinci neunzehnhundertvierundsiebzig als Einbrecher anzeigte, war meinem Informanten zufolge sein Sohn, sein eigener Sohn. Antonio Vinci. Das Baby, das neunzehnhunderteinundsechzig in Sardinien vor dem Gas gerettet wurde.«
Aber natürlich , dachte ich. Laut sagte ich: »Mario, dir ist doch klar, was wir tun müssen, oder?«
»Was?«
»Ihn interviewen.«
Kapitel 34
Über drei Jahrzehnte nach dem Mord an Barbara Locci und ihrem Liebhaber 1968 waren nur noch zwei Männer übrig, die bei den Ermittlungen der Sardinien-Spur eine Rolle gespielt hatten: Antonio Vinci und Natalino Mele. Alle anderen waren gestorben oder verschwunden. Francesco Vincis Leichnam war gefesselt im Kofferraum eines ausgebrannten Wagens gefunden worden, nachdem er anscheinend der Mafia in die Quere gekommen war. Salvatore hatte sich nach seinem Freispruch in Luft aufgelöst. Stefano Mele, Piero Mucciarini und Giovanni Mele waren längst tot.
Wir beschlossen, vor dem Interview mit Antonio Vinci zuerst mit Natalino Mele zu sprechen, der 1968 als Sechsjähriger auf dem Rücksitz gesessen und den Mord an seiner Mutter mit angesehen hatte. Natalino erklärte sich bereit, mit uns zu sprechen, und wählte als Treffpunkt einen Ententeich im Park Le Cascine in Florenz, neben dem ein schäbiges Riesenrad und ein Karussell standen.
Der Tag war bewölkt und trübe, es roch nach feuchtem Laub und Popcorn. Mele traf ein, die Hände in den Taschen vergraben, ein dicker, trauriger Mann Anfang vierzig mit schwarzem Haar und einem gequälten Ausdruck in den Augen. Er sprach mit der aufgeregten, quengeligen Stimme eines kleinen Jungen, der von einer erlittenen Ungerechtigkeit erzählt. Nachdem seine Mutter ermordet und sein Vater
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