Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
halte mich mit einer Hand fest und sehe zu, wie die Stadt an uns vorbeizieht.
Wenn ich Jeanine wäre, würde ich meine Soldaten zum Eingang über der Grube schicken und vor dem Glasturm postieren. Also ist es klüger, den Hintereingang zu benutzen. Und der ist dort, wo man vom Dach springen muss.
» Ich vermute, du bedauerst es jetzt, dass du zu den Ferox gegangen bist«, sagt Marcus.
Ich bin überrascht, dass er und nicht mein Vater diese Frage stellt, aber Vater ist still und beobachtet wie ich die Stadt. Der Zug fährt am Hauptquartier der Ken vorbei, das nun im Dunkeln liegt. Aus der Ferne sieht es friedlich aus und in seinen Mauern geht es wahrscheinlich auch friedlich zu. Es ist weit weg von den Kämpfen und allem, was die Ken angerichtet haben.
Ich schüttle den Kopf.
» Nicht einmal jetzt, wo die Anführer deiner Fraktion bei einem Anschlag mitmachen, um die Regierung zu stürzen?«, fragt Marcus giftig.
» Es gab ein paar Dinge, die ich dort lernen musste.«
» Mutig zu sein?«, fragt mein Vater leise.
» Selbstlos zu sein«, antworte ich. » Manchmal ist es das Gleiche.«
» Hast du dir deshalb das Zeichen der Altruan auf die Schulter tätowieren lassen?«, fragt Caleb. Wenn ich mich nicht täusche, lächelt mein Vater bei diesen Worten.
Ich lächle zurück, nicke und sage freundlich: » Und das Zeichen der Ferox auf die andere Schulter.«
Die aufgehende Sonne spiegelt sich in den hohen Glaswänden über der Grube und blendet mich. Ich halte mich am Türgriff fest. Gleich sind wir da.
» Wenn ich euch sage: springt, dann springt ihr, so weit ihr könnt«, sage ich.
» Springen?«, fragt Caleb. » Wir sind sieben Stockwerke hoch, Beatrice.«
» Nicht nach unten, sondern auf ein Dach.« Als ich seinen verdutzten Blick sehe, füge ich hinzu: » So etwas nennen sie Mutprobe.«
Mut ist eine Sache der Gewöhnung. Als ich zum ersten Mal aus dem fahrenden Zug gesprungen bin, war es für mich das Schwerste, was ich je getan hatte. Jetzt macht es mir überhaupt nichts mehr aus, denn in den vergangenen Wochen habe ich schwierigere Dinge getan als manche Menschen in ihrem ganzen Leben. Aber das ist alles nichts im Vergleich zu dem, was ich jetzt vorhabe. Und falls ich es überlebe, werden mir weitere schwere Prüfungen bevorstehen, zum Beispiel ohne Fraktion zu leben, etwas, was ich mir niemals hatte vorstellen können.
» Dad, gleich ist es so weit«, sage ich und trete beiseite, damit er sich an die Kante stellen kann. Wenn er und Marcus als Erste springen, kann ich es so einrichten, dass sie den kürzesten Weg haben. Caleb und ich sind jünger und können hoffentlich etwas weiter springen. Ich muss es jedenfalls riskieren.
Die Gleise machen eine Biegung, und als wir gleichauf mit dem Hausdach sind, rufe ich: » Spring!«
Mein Vater federt in den Knien und stößt sich ab. Ich warte nicht erst, ob er es geschafft hat. Ich gebe Marcus einen Stoß und rufe: » Spring!«
Mein Vater landet auf dem Dach, aber so dicht am Rand, dass mir vor Schreck die Luft wegbleibt. Er setzt sich mitten auf den Kies. Ich schiebe Caleb vor mich. Er stellt sich an die Tür und springt, ohne dass ich es ihm sagen muss. Ich hole kurz Anlauf und springe aus dem Wagen, gerade als der Zug das Ende des Dachs erreicht. Für einen Sekundenbruchteil schwebe ich im Nichts, dann lande ich hart mit den Füßen auf dem Zementboden und taumle nach vorn, weg von der Dachkante. Meine Knie brennen und vom Aufprall tut mir alles weh, auch meine Schulter schmerzt wieder. Ich setze mich hin, hole tief Luft und schaue mich nach den anderen um.
Caleb und mein Vater stehen an der Dachkante und halten Marcus am Arm fest. Er hat es nicht aufs Dach geschafft, aber noch ist er nicht abgestürzt.
Meine innere Stimme ruft hämisch: Fall doch, fall doch, fall doch!
Aber er fällt nicht. Vater und Caleb ziehen ihn aufs Dach. Ich stehe auf und klopfe mir den Sand von den Kleidern. In Gedanken bin ich bereits bei dem, was als Nächstes kommt. Jemanden dazu zu bewegen, aus einem Zug zu springen, ist das eine, aber von einem Dach zu springen?
» Was jetzt kommt, ist der Grund, wieso ich nach der Höhenangst gefragt habe.« Ich gehe zur Dachkante, hinter mir höre ich die schweren Schritte der anderen, als sie mir folgen. Der Wind pfeift über das Gebäude und bläst mein Hemd auf. Ich schaue in das dunkle Loch, sieben Stockwerke unter uns, dann schließe ich die Augen und lasse mir den Wind ins Gesicht blasen.
» Am Boden ist ein Netz«, sage ich
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