Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
Kapitel
Tobias dreht den Kopf und schaut mich aus seinen dunklen Augen an. Er runzelt verwundert die Stirn, dann steht er auf und legt seine Waffe auf mich an.
» Waffe fallen lassen«, sagt er.
» Tobias«, beschwöre ich ihn, » du befindest dich in einer Simulation.«
» Lass die Waffe fallen«, wiederholt er, » oder ich schieße.«
Jeanine hat gesagt, er würde mich nicht kennen. Sie hat auch gesagt, dass die Simulation Tobias’ Freunde zu seinen Feinden machen würde. Wenn er muss, dann wird er auf mich schießen.
Ich lege die Pistole vor mich auf den Boden.
» Lass die Waffe fallen!«, schreit Tobias.
» Das habe ich.« Eine leise Stimme in meinem Kopf flüstert mir immer wieder zu, dass er mich nicht hören kann, dass er mich nicht sehen kann, dass er mich nicht kennt. Meine Augen brennen wie Feuer. Ich kann doch nicht einfach stehen bleiben und darauf warten, dass er mich erschießt.
Ich stürze auf ihn zu und packe ihn am Handgelenk. Ich spüre, wie sich seine Muskeln spannen, als er den Abzug drückt, und kann mich gerade noch rechtzeitig ducken. Die Kugel schlägt in der Wand hinter mir ein. Atemlos versetze ich ihm einen Tritt in die Rippen und drehe ihm den Arm auf den Rücken. Er lässt die Waffe fallen.
Im Kampf kann ich Tobias nicht besiegen, so viel steht fest. Aber es geht um die Computer– die muss ich zerstören. Ich bücke mich nach der Waffe. Noch ehe ich sie zu fassen kriege, packt er mich und schleudert mich zur Seite.
Für den Bruchteil einer Sekunde sehe ich seine dunklen, verwirrten Augen vor mir, dann versetzt er mir einen solchen Kinnhaken, dass mein Kopf zur Seite fliegt. Ich ducke mich weg und halte die Hände schützend vor mein Gesicht. Ich darf nicht fallen; ich darf nicht fallen, sonst wird er nach mir treten, und das ist schlimmer, viel schlimmer.
Ich schubse mit dem Fuß die Waffe weg, damit er sie nicht in die Hände bekommt, und dann versuche ich, den pochenden Schmerz in meinem Kinn zu ignorieren, und trete ihm in den Bauch.
Er bekommt meinen Fuß zu fassen und holt mich von den Beinen. Ich falle auf meine Schulter; der Schmerz ist so unerträglich, dass mir fast schwarz vor Augen wird. Er holt mit dem Fuß aus, um mich zu treten, aber ich rolle mich auf die Knie und strecke den Arm nach der Waffe aus. Ich weiß gar nicht, was ich mit ihr anfangen soll. Ich kann nicht auf ihn schießen, ich kann nicht, ich kann nicht. Denn irgendwo in ihm ist noch der alte Tobias.
Er zerrt mich an den Haaren zur Seite. Ich greife hinter mich und bekomme sein Handgelenk zu fassen, aber er ist zu stark, ich knalle mit der Stirn gegen die Wand.
Irgendwo ist noch der alte Tobias.
» Tobias«, flehe ich ihn an.
Hat sich sein Griff gelockert? Ich rolle herum und versetze ihm aus dem Liegen heraus einen Tritt, meine Ferse trifft sein Bein. Sobald mein Haar seinem Griff entgleitet, rutsche ich zur Seite, schnappe mir die Waffe und umklammere mit den Fingerspitzen das kalte Metall. Ich drehe mich auf den Rücken und richte die Mündung auf ihn.
» Tobias«, sage ich. » Ich weiß, irgendwo in dir steckt noch der alte Tobias.«
Aber wenn es so wäre, dann würde er jetzt nicht auf mich zukommen, um mich umzubringen.
Mein Kopf dröhnt. Ich stehe auf.
» Tobias, bitte.« Ich bettle. Ich weine. Mein Gesicht ist schon ganz heiß von den Tränen. » Bitte. Schau mich an.« Er kommt auf mich zu, seine Bewegungen sind bedrohlich, schnell, kraftvoll. Meine Hand mit der Waffe zittert. » Schau mich an, Tobias, bitte!«
Selbst wenn er so finster schaut wie jetzt, ist sein Blick nachdenklich. Und wenn er jetzt lächeln würde, dann würde er die Lippen verziehen, wie so oft.
Ich bringe es nicht fertig, ihn zu töten. Ich weiß nicht, ob ich ihn liebe, ich weiß nicht, ob dies der Grund dafür ist. Aber ich weiß, was er an meiner Stelle tun würde. Ich weiß, dass nichts seinen Tod wert ist.
Das hier habe ich schon einmal getan– in meiner Angstlandschaft. Mit der Waffe in der Hand stand ich da, und jemand befahl mir, die Menschen zu erschießen, die ich liebte. Damals habe ich mich dafür entschieden, lieber selbst zu sterben, aber ich habe keine Ahnung, inwiefern mir das jetzt nützen könnte. Und dennoch weiß ich es. Ich weiß genau, was ich tun muss.
Mein Vater sagt– pflegte zu sagen–, dass es große Kräfte freisetzt, wenn man sich selbst opfert.
Ich drehe die Waffe und drücke sie Tobias in die Hand.
Er hält mir den Lauf an die Stirn. Ich habe aufgehört zu weinen, die
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