Die Bestimmung - Toedliche Wahrheit - Band 2
wenn ich die Hand ausstrecke, steht eine junge Candor. Ein kleines Mädchen. Sie hält eine Pistole, die genauso lang ist wie ihr Unterarm. Sie steht so unbeweglich da, dass ich mich unwillkürlich frage, ob sie überhaupt atmet.
Ich verdrehe den Kopf, um die Fenster weiter oben in Augenschein zu nehmen. Im Schulgebäude über mir sind jede Menge Fenster, aber im Hauptquartier der Ken gibt es nur eines, das auf gleicher Höhe liegt wie die Fenster hier. Es befindet sich im dritten Stock.
» Ich habe gute Neuigkeiten«, sage ich. » Ich habe einen Weg zu den Ken entdeckt.«
42. Kapitel
Alle machen sich auf die Suche nach irgendwelchen Abstellkammern, die der Hausmeister hier früher gehabt haben muss. Es war meine Idee, eine Leiter zu suchen. Ich höre, wie die Turnschuhe über die Fliesen quietschen. Rufe hallen durchs Gebäude. » Da ist einer– nein, wartet, hier sind nur Putzeimer drin. Sucht weiter.« oder » Wie lang muss die Leiter denn sein? Eine Trittleiter reicht nicht, oder?«
Während sie noch herumstöbern, habe ich das Klassenzimmer im dritten Stock, das dem Fenster des Ken-Gebäudes direkt gegenüberliegt, längst gefunden. Aber ich brauche drei Versuche, um das richtige Fenster zu öffnen.
Ich lehne mich hinaus. » Hey!« Dann gehe ich blitzschnell in Deckung. Nirgendwo sind Schüsse zu hören. Gut, denke ich. Das heißt, sie reagieren nicht auf Geräusche.
Christina kommt mit einer Leiter unter dem Arm ins Klassenzimmer, die anderen folgen ihr. » Ich hab eine! Ich schätze, sie ist lang genug, wenn wir sie ausziehen.«
Sie dreht sich etwas zu hastig um und die Leiter kracht gegen Fernandos Schulter.
» Oh, tut mir leid, Nando.«
Der Stoß mit der Leiter hat ihm beinahe die Brille von der Nase gefegt. Er lächelt Christina an, nimmt seine Brille ab und steckt sie in die Tasche.
» Nando?«, wiederhole ich. » Ich dachte, die Ken mögen keine Spitznamen?«
» Wenn dich ein hübsches Mädchen bei einem Spitznamen ruft«, sagt er, » dann ist es nur logisch, dass man sich angesprochen fühlt, oder?«
Christina blickt zur Seite. Zuerst denke ich, sie ist verlegen, doch dann sehe ich, wie sich ihre Gesichtszüge verzerren, so als hätte Fernando ihr eine Ohrfeige verpasst und kein Kompliment gemacht. So kurz nach Wills Tod ist es zu viel für sie, wenn jemand anderes versucht, mit ihr zu flirten.
Ich packe mit an und zusammen schieben wir das Ende der Leiter durch das Fenster und quer über die Seitenstraße. Marcus hilft uns, sie festzuhalten. Fernando jubelt, als die Leiter an das andere Fenster stößt.
» Jetzt müssen wir nur noch die Fensterscheibe zerschmettern«, sage ich.
Fernando zieht das Ding, mit dem man Glas explodieren lassen kann, aus seiner Tasche und reicht es mir. » Du kannst wahrscheinlich am besten von uns allen zielen.«
» Darauf würde ich nicht wetten«, sage ich. » Mein rechter Arm funktioniert nicht mehr ganz so wie ich will. Wenn schon, dann muss ich mit Links werfen.«
» Lass mich das machen«, sagt Christina.
Sie drückt den Knopf an der Seite des Apparats und wirft ihn mit einer Drehung des Handgelenks über die Straße. Ich kralle meine Finger ineinander, während ich auf den Einschlag warte. Der Apparat landet auf dem Fensterbrett und rollt gegen die Glasscheibe. Ein orangefarbenes Licht blitzt auf, und dann explodiert das Fensterglas– genauso wie die Fenster darüber, darunter und daneben. Hunderte von Glassplittern regnen auf die Candor unten auf der Straße herab.
Sofort treten die Candor in Aktion. Sie drehen sich gleichzeitig in unsere Richtung und schießen in die Luft. Alle werfen sich zu Boden, nur ich nicht. Ein Teil von mir bewundert das perfekte Timing, die perfekte Choreographie. Zugleich fühle ich Ekel, wenn ich daran denke, dass Jeanine Matthews die Menschen einer weiteren Fraktion in eine perfekt funktionierende Maschine verwandelt hat.
Keine der Kugeln schlägt auch nur in der Nähe der Fenster ein oder dringt in den Raum.
Als die Pistolenschüsse verklungen sind, wage ich einen Blick auf die Candor. Sie haben wieder ihre Positionen eingenommen, halb die Madison Avenue im Blick, halb die Washington Street.
» Sie reagieren nur auf Bewegungen, also seht zu, dass ihr nicht von der Leiter fallt«, sage ich. » Wer als Erster geht, hält die Leiter drüben fest, damit die anderen gut hinüberkommen.«
Mir entgeht nicht, dass Marcus, der sich eigentlich freiwillig melden müsste, keinen Ton von sich gibt.
» Heute ist dir wohl
Weitere Kostenlose Bücher