Die Bestimmung - Toedliche Wahrheit - Band 2
allergrößter Wichtigkeit.« Ich bemühe mich, überheblich zu klingen, das Markenzeichen der meisten Ken, die ich bisher kennengelernt habe. » Ich möchte sie nicht hier zurücklassen, wo sie möglicherweise noch von Kugeln durchsiebt werden.«
» Es steht mir nicht zu, dich von deinem Vorhaben abzubringen«, sagt sie. » Wenn du mich jetzt entschuldigst– ich möchte mir die Hände waschen und dann wieder in Deckung gehen.«
» Das scheint mir sehr vernünftig zu sein«, stimme ich ihr zu. Ich verzichte darauf, sie auf das Toilettenpapier an ihren Schuhen hinzuweisen.
Ich trete ans Fenster. Auf der anderen Straßenseite mühen sich Christina und Fernando damit ab, die Leiter wieder auf das Fensterbrett zu ziehen. Obwohl meine Arme und Hände wehtun, beuge ich mich aus dem Fenster, packe das Ende der Leiter und ziehe sie auf das Fenstersims. Dann halte ich sie an meinem Ende fest, während Christina darüber klettert.
Diesmal bleibt die Leiter stabil und Christina schafft es ohne Schwierigkeiten über die Straße. Sie nimmt mir die Leiter aus der Hand und hält sie fest, während ich den Müllbehälter vor die Tür schiebe, damit uns niemand stören kann. Dann halte ich meine Finger unter den kalten Wasserstrahl, um das Brennen etwas zu lindern.
» Diese Aktion ist ziemlich clever, Tris«, sagt Christina.
» Warum so überrascht?«
» Es ist nur…« Sie hält inne. » Laut Eignungstest hättest du auch zu den Ken gepasst, oder?«
» Ja, und? Was soll das jetzt heißen?«, frage ich eine Spur zu scharf. » Die alten Fraktionen gibt es längst nicht mehr, und wenn du mich fragst, war dieses ganze System von Anfang an keine gute Idee.«
So etwas habe ich bis jetzt noch nie gesagt. Nicht einmal gedacht. Ich bin selbst überrascht, dass ich von meinen Worten überzeugt bin– überrascht, dass ich der gleichen Meinung wie Tobias bin.
» Das war nicht als Beleidigung gemeint«, sagt Christina beschwichtigend. » Es ist ja nicht unbedingt etwas Schlechtes, wenn man für die Ken geeignet ist. Gerade jetzt ist es zum Beispiel ziemlich nützlich.«
» Tut mir leid. Ich bin… ziemlich angespannt. Das ist alles.«
Marcus steigt durch das Fenster und lässt sich auf die Fliesen fallen. Cara ist überraschend flink– sie bewegt sich auf den Sprossen, als würde sie an den Saiten eines Banjos zupfen, berührt jede nur für einen Sekundenbruchteil, ehe sie schon wieder einen Schritt weiter ist.
Fernando ist als Letzter dran; er ist in der gleichen Situation, in der ich gerade noch war, als die Leiter nur von der einen Seite gehalten wurde. Ich trete näher ans Fenster, damit ich ihn warnen kann, wenn ich sehe, dass die Leiter rutscht.
Fernando, von dem ich nie gedacht hätte, dass ihm das Klettern schwerfällt, bewegt sich am ungeschicktesten von allen. Wahrscheinlich hat er sein ganzes Leben vor einem Computer oder hinter einem Buch verbracht. Er schiebt sich vorwärts, sein Gesicht ist knallrot, und er hält sich so krampfhaft an den Sprossen fest, dass seine Hände violett anlaufen und fleckig werden.
Als er schon zur Hälfte über der Straße ist, sehe ich, wie ihm etwas aus der Tasche rutscht. Seine Brille.
Ich schreie auf. » Fernan-«
Aber es ist zu spät.
Die Brille fällt heraus, streift den Rand der Leiter und fällt klirrend auf den Asphalt.
Wie auf Knopfdruck drehen sich die Candor nach oben und feuern in die Luft. Fernando schreit auf und sackt auf die Leiter. Eine Kugel hat ihn ins Bein getroffen. Ich weiß nicht, wo ihn die anderen Kugeln erwischt haben, aber mir wird klar, dass es keine besonders günstige Stelle sein kann, als ich das Blut zwischen den Sprossen herabtropfen sehe.
Fernando blickt mit aschfahlem Gesicht zu Christina auf. Christina wirft sich nach vorne, lehnt sich weit aus dem Fenster und will ihm die Hand entgegenstrecken.
» Sei kein Idiot!«, sagt er matt. » Lass mich einfach.«
Es sind seine letzten Worte.
43. Kapitel
Christina tritt vom Fenster zurück. Niemand spricht ein Wort.
» Ich möchte nicht herzlos klingen«, sagt Marcus, » aber wir müssen los, ehe die Ferox und die Fraktionslosen kommen. Wenn sie nicht schon längst da sind.«
Ich höre ein Klopfen am Fenster. Ich fahre herum, und einen Sekundenbruchteil lang glaube ich, dass es Fernando ist, der hereinkommen will. Aber es ist nur der Regen.
Wir folgen Cara, sie ist jetzt unsere Anführerin, denn sie kennt sich am besten im Hauptquartier der Ken aus. Ihr folgen erst Christina, dann Marcus, dann ich.
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