Die Bestimmung - Toedliche Wahrheit - Band 2
antworte ich, und meine Stimme hört sich sogar für mich seltsam fern an. » Ich bin einfach neugierig.«
» Ich würde ihn nicht zu hart beurteilen«, sagt Fernando. » Jeanine kann ziemlich überzeugend auf alle wirken, die nicht von Natur aus misstrauisch sind. Und ich bin von Natur aus misstrauisch.«
Ich blicke unverwandt zur Skyline, die immer schärfere Konturen annimmt, je näher wir der Stadt kommen. Ich halte Ausschau nach den beiden hohen Pfeilern der Zentrale, und als ich sie gefunden habe, fühle ich mich besser und gleichzeitig auch schlechter– besser, weil der Anblick dieses Gebäudes so vertraut ist, und schlechter, weil wir schon ziemlich nahe an unserem Ziel sein müssen.
» Ja«, sage ich. » Ich auch.«
4 1 . Kapitel
Als wir in der Stadt ankommen, sind längst alle Gespräche im Truck verstummt. Stattdessen sieht man nur noch schmale Lippen und blasse Gesichter. Marcus weicht Schlaglöchern aus, in die ein ganzer Mensch hineinpassen würde, und lenkt uns geschickt um die Trümmer eines Busses herum. Erst als wir das Gebiet der Fraktionslosen verlassen und in die gepflegteren Stadtviertel kommen, rollen die Trucks wieder einigermaßen gleichmäßig die Straßen entlang.
Dann höre ich Schüsse. Aus der Ferne klingen sie wie das dumpfe Knallen eines Feuerwerks.
Einen Augenblick lang verliere ich wieder den Boden unter den Füßen, sehe nur die Anführer der Altruan, wie sie auf dem Asphalt in die Knie gehen, die Ferox mit ihren ausdruckslosen Mienen und den Pistolen in der Hand; ich sehe meine Mutter, wie sie sich von mir wegdreht, um sich dem Pistolenfeuer entgegenzustellen. Will, der zu Boden sackt. Als mir die Tränen in die Augen schießen, beiße ich mir auf die Fingerknöchel und der Schmerz bringt mich wieder in die Wirklichkeit zurück.
Meine Mutter hat mir gesagt, dass ich tapfer sein muss. Aber wenn sie gewusst hätte, dass ihr Tod mir meinen letzten Mut nehmen würde– hätte sie sich dann genauso bereitwillig für mich geopfert?
Marcus schert aus der Lastwagenkolonne aus und biegt in die Madison Avenue ein; als wir nur noch zwei Häuserblocks von der Michigan Avenue entfernt sind, wo schon der Kampf tobt, parkt er den Truck in einer Nebenstraße und stellt den Motor ab.
Fernando springt von der Ladefläche und streckt seine Hand nach mir aus.
» Komm her, Rebellin«, sagt er mit einem Augenzwinkern.
» Was?«, frage ich. Ich ergreife seine Hand und gleite an der Seite der Ladefläche auf den Boden.
Fernando öffnet den Sack, auf dem er eben noch saß. Der Beutel ist vollgestopft mit blauen Kleidern. Er wühlt darin herum und wirft mir und Christina ein paar Teile zu. Ich bekomme ein hellblaues T-Shirt und ein paar Jeans ab.
» Rebellin«, sagt er. » Substantiv. Eine Person, die den bestehenden Machthabern Widerstand leistet, was aber noch nicht heißt, dass dieser Widerstand immer mit Krieg verbunden sein muss.«
» Hast du eigentlich für alles eine Definition parat?«, fragt Cara und fährt sich mit der Hand über ihr dunkelblondes Haar, um sich ein paar widerspenstige Strähnen zurückzustreichen. » Wir ziehen hier einfach gemeinsam unsere Sache durch. Deshalb brauchen wir nicht gleich eine neue Bezeichnung dafür.«
» Zufälligerweise macht es mir Spaß, alles in Kategorien einzuteilen«, antwortet Fernando und zieht dabei seine dunklen Augenbrauen hoch.
Ich blicke ihn an. Das letzte Mal, als ich in das Hauptquartier einer Fraktion eingedrungen bin, hatte ich eine Pistole in der Hand und habe Leichen hinter mir zurückgelassen. Ich will nicht, dass es diesmal wieder so endet. Es darf nicht wieder so enden. » Mir gefällt’s«, sage ich. » Rebellen. Das ist perfekt.«
» Siehst du«, sagt Fernando zu Cara. » Ich bin nicht der Einzige.«
» Herzlichen Glückwunsch«, entgegnet sie trocken.
Ich betrachte meine Ken-Kleidung, während die anderen schon dabei sind, sich umzuziehen. » Jetzt ist der falsche Zeitpunkt für Prüderie, Stiff!«, sagt Christina und wirft mir einen vielsagenden Blick zu.
Mir ist klar, dass sie recht hat, deshalb schlüpfe ich aus dem roten T-Shirt und ziehe stattdessen ein blaues über. Ich werfe einen prüfenden Blick zu Marcus und Fernando hinüber, um mich zu vergewissern, dass keiner von beiden in meine Richtung sieht. Erst dann wechsle ich die Hose. Ich muss die Beine der Jeans viermal umschlagen, und als ich den Gürtel schließe, steht die Hose oben ab wie der Rand einer zugeschnürten Papiertüte.
» Hat sie dich gerade
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