Die Bestimmung
Niemand zu Hause. Mist! Sie klopfte nochmals, energischer.
«Mr. Finch?» Keine Regung. Enttäuscht stieg sie die Treppe wieder hinunter, schön an der Turmmauer entlang. Einen Moment stand sie unschlüssig im Hof. Konnte sie so einfach hinten herum in den Garten gehen? Ach egal. Die Menschen hier waren so freundlich. Ihretwegen konnte er sie dann ruhig ein wenig mit gälischen Schimpfwörtern bedenken, solange er sich nur den Brief ansah. Mit diesen Gedanken stapfte sie zwischen Garage und Turm hindurch, öffnete die Tür eines Holzzauns und spähte nach einigen Schritten vorsichtig um die Ecke. Ein riesiger Garten tat sich vor ihr auf. Wildes, ungeschnittenes Gras, krumme knorrige Obstbäume, ein Walnussbaum, eine Kastanie, Weißdornbüsche, Brombeeren, wilde Blumen. Ein schneeweißes Pferd stand da und graste friedlich vor sich hin. Und dann erblickte Nilah eine Trittleiter an einem der Bäume und vernahm das leise Summen eines unbekannten Liedes. Nilah trat näher, sah aber nur zwei Hosenbeine aus den Ästen und Blättern heraushängen. Keine Arbeitshose, sondern feinster beiger Tweed. Braune, teuer aussehende Schuhe. Ein Fuß wippte zur Melodie.
«Mr. Finch?» Der Fuß hörte auf zu wippen. Ein dicht belaubter Zweig wurde zur Seite geschoben und ein halb erschrockenes Gesicht blickte auf sie herunter. Zwei schwarze Augenbrauen flankierten zwei tiefe Denkerfalten über der Nasenwurzel. Der Blick war musternd.
«Nun, die Obstdiebe scheinen nicht nur jünger zu werden, sondern auch noch wesentlich hübscher. Das spricht wohl eindeutig für die Evolution!», stellte der Mann fest, während er die quietschend Holzleiter herunterstieg.
Nilah hatte sich Professoren immer als graumelierte, verschrobene Typen mit dünnem, fusseligem Haar vorgestellt, die zwar eine Quantentheorie aufstellen, sich aber keine gleichfarbigen Socken anziehen konnten. Aber dieser Professor sah wie ein Schauspieler aus, als er endlich vor ihr stand – naja, wie einer, dem man aus einem Schwarzweiß Schinken gebeamt hatte, die ihr Vater so sehr liebte und von denen er behauptete, es seien unerreichte Meisterwerke. Wie Errol Flynn oder Gregory Peck.
Professor Finch war bestimmt einen Meter neunzig groß und Nilah musste folglich den Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen zu schauen. Schwarze Haare, die ordentlich zu einem Seitenscheitel drapiert waren, leicht hohlwangig, feine Falten um den Mund, die ihn wie Doppelklammern umgaben, und ein paar braune energische Augen, in denen Abenteuerlust funkelte. Über einem tadellosen weißen Hemd trug er eine ebenso tadellose Weste.
«Ich bin Atticus Finch und mit welchem Landbesetzer habe ich die Ehre?» Seine Stimme war weich und dunkel. Nilah musste sich erst einmal von der beeindruckenden Erscheinung erholen, bevor sie ihre Gedanken in einer Reihe hatte.
«Ich bin Nilah van Arten, Schülerin aus Hamburg», stammelte sie auf englisch, als hätte sie ein Vorstellungsgespräch. Wie peinlich!
Der Professor schmunzelte, wobei sich die Falten auf einer Seite vertieften. Er war Nilah sofort sympathisch.
«Nun, Nilah van Arten. Welcher mysteriöse Umstand verschafft mir Deine bezaubernde Anwesenheit hier in meinem Garten?» Er klappte die Leiter zusammen. Nilah folgte ihm zu einem schiefen Geräteschuppen, der an der Turmwand lehnte, als müsste er sich abstützen.
«Ich bin die Enkelin von Edda O´Connelly», sagte Nilah, als wäre das Antwort genug. Der Professor schob einen Riegel vor die Schuppentür, was Nilah für ziemlich überflüssig hielt, und ging dann auf die breite Treppe zu, die hier im Garten wie eine stufige Rampe in den ersten Stock des Turms führte. Zwei grässliche Steinfiguren standen auf dem oberen Sockel. Eine weite große Fensterfront nahm die gesamte Fläche der Treppe ein, die hier eine Art Terrasse bildete. Daneben war eine grün bemalte Holztür, durch die der Professor nun verschwand, nachdem er sich die Schuhe an einer ausgefransten Fußmatte abgeputzt hatte. Nilah drehte sich nochmals um. Das schöne Pferd war verschwunden. Dann tat sie es dem Professor gleich und betrat einen großen hellen Raum.
Das erste, was sie empfand, war Gemütlichkeit. Helle, dicke Bodendielen, auf denen schöne Teppiche mit seltsamen Mustern lagen. Massive Regale, in denen hunderte von Büchern standen, wie mit dem Senkblei ausgerichtet. Ein großer Kamin, auf dessen Sims ein dickbäuchiger Buddha grinste, ein gerahmtes Poster von einem Rockstar: Rory Gallagher , und dieser Rory hatte
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