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Die Bestimmung

Die Bestimmung

Titel: Die Bestimmung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Kellen
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einsam am Rand des Gartens ruhte. Es war bereits die dritte gruselige, aber faszinierende Geschichte gewesen, die der Professor ihr während des Rückwegs erzählt hatte. Und sie hatten gerade einmal das riesige Grundstück umrundet. Wie sehr wünschte sie sich, der Geschichtsunterricht würde einmal so aufregend sein. Wie hatte alles begonnen, wo war der Ursprung, wer waren all die Menschen gewesen, die hier gelebt hatten? Weit in der Ferne konnte man einen Steinkreis erkennen. Er stand so selbstverständlich da wie die Kapelle, in der sie von Edda Abschied genommen hatten.
    «Oh, ich kenne diesen Blick», schmunzelte Mr. Finch. «Diesen Blick bekommen hier viele Menschen, die dieses Land noch nie zuvor gesehen haben.» Er lachte. Nilah dachte an all die schrecklichen Nachrichten, die sie über den Norden der Republik gehört und gesehen hatte.
    «Darf ich Sie etwas fragen, Professor?» Er nickte. «Sind Sie katholisch?» Das Nicken hörte auf. Ein nachdenklicher Blick traf sie.
    «Ach ja, die Frage nach Gott. Nach dem Glauben. Der jugendliche Wissensdurst, das ständige Hinterfragen, wie haben sie mir gefehlt.» Er lachte wieder, hob einen Stein auf und drehte ihn nachdenklich in der Hand. «Ja, ich bin katholisch, junge Lady. Aber ob es allein deshalb einen Gott gibt, nun, diese Frage wird auf ewig durch unsere Köpfe hallen. Es gibt weder einen Beweis für, noch einen, der gegen seine Existenz spricht. Ein heikles Thema, vor allem hier.» Er deutete auf sein Herz. Dann warf den Stein in der Hand auf und ab. «Aristoteles glaubte einst, alle Zweifler in ihre Schranken weisen zu können. Weißt du, er ging, um Gott zu beweisen, von der Zeit aus. Zeit ist ewig. Aber die Zeit ist auch Bewegung. Nach vorn in die Zukunft und rückwärts in die Vergangenheit. Doch alles, was in Bewegung ist», er fing den Stein auf und warf ihn wieder in die Luft, «bedarf einer Ursache.» Er ließ den Stein fallen und dieser traf einen anderen, der dadurch davonsprang. «Man kann nun für die Ursache der Bewegung wieder eine andere nehmen. Da das aber nicht bis in die Unendlichkeit so weiter gehen kann, muss es ein Primum movens gegeben haben. Ein erstes Bewegendes, das selbst unbewegt ist. Gott.» Er rieb sich beinahe besorgt das Kinn. Dann seufzte er ergeben.
    Nilah war sprachlos. Das war der schönste Nachmittag seit langem. Sie hatte den Professor schon ins Herz geschlossen. Er war so ruhig, so unbelehrend, obwohl man bei jedem Satz etwas lernte.
    Als sie ihr Fahrrad vom Zaun nahm, der Wind sanft über den Hof strich und die Blätter rascheln ließ, da fühlte sie sich zum ersten Mal so, als würde sie hier Ferien machen und nicht wegen eines so ernsten und traurigen Anlasses gekommen sein.
    «Vielen Dank, Mr. Finch.»
    «Bitte, junge Lady. Nenn mich doch Atticus.»
    «Gern, Atticus. Ich habe viel über Ihr Land erfahren. Ich finde, es hat etwas schaurig Schönes. Es ist so ... so rätselhaft», sinnierte Nilah und holte ihre Sonnenbrille hervor. Ihr Kopf brummte noch immer von dieser verrückten Feier.
    «Manchmal wirkt Irland wie ein altes verlassenes Haus, dessen Möbel mit weißen Laken überhängt wurden. Viele Tragödien liegen darunter, und manchmal, bei schwerem Regen, glaube ich, möchte die Insel zurück auf den Meeresgrund.» Der Professor warf einen langen sehnsüchtigen Blick über die schroffen Hügel, die sich unter ihnen ausbreiteten, und Nilah konnte nicht umhin zu erwähnen, dass sie noch niemals etwas so Poetisches über ihre Heimat gehört hatte.
    Das Meer war ein breiter schimmernder Gürtel, der um das Land herum lag. Ein tiefes wissendes Gesicht voller Geheimnisse.
     
     

Die Truhe
    Nilah fror. Sie lauschte dem Wind, der um das Haus herum stob, als suche er nach einem geeigneten Einlass. Erst knarrten die Deckenbalken über ihr, dann die Treppe, die in das Wohnzimmer hinunter führte. Die Fensterscheiben zitterten in ihren hölzernen Rahmen, und sie hatte das Gefühl, ein kalter Hauch wehe über ihre Bettdecke hinweg, der sie schaudern ließ. Sie lag starr da. Eingemummelt in einen warmen Jogginganzug und mit zwei Paar dicke Socken, wagte sie es nicht, sich zu bewegen. Die Decke bis zum Kinn gezogen, lauschte sie jedem Geräusch, das sie nicht kannte – und es waren eine Menge.
    Obwohl die Decke groß und flauschig war, wurde ihr einfach nicht warm. Die drei Kerzen auf dem Fenstersims flackerten in jedem Windzug, der sich durch den Rahmen drückte und ließen wilde Schatten über die Wände zucken. Nilahs

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