Die Bestimmung
unscharf werden und so versuchte er, sie mit den Handballen reibend, aus seinem Kopf zu vertreiben. Er musste klare Gedanken bekommen, das war jetzt das Wichtigste. Wirre Erinnerungen, schnell wie Insekten, zogen durch seine Sinne und für einen Moment wollte er schreien, nur um diesem Druck standhalten zu können.
Es war, als habe er noch vor Augenblicken mit einer anderen Welt den gemeinsamen Atem geteilt, nur um im nächsten seinen nackten Fuß in diese zu setzen. Und das Erste was er sah, waren ein paar Keulen schwingende Trolle vom Erdclan, die wie entfesselt auf jemanden losgingen. Auch hatte er einen wilden Zorn gespürt, der aus ihm wie aus einer Hülle gebrochen war. Diese Erkenntnis stach ebenfalls wie ein heißer Dorn in seiner Stirn. Nur war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, solchen Dingen nachzuspüren.
Er wollte sich gerade um die Verletzte kümmern, da durchfuhr ihn ein Ziehen und Reißen, das durch seinen ganzen Körper lief, als wolle etwas, das in ihm war und nicht dorthin gehörte, sich gewaltsam nach außen drücken. Keuchend fiel er auf die Knie, grub die Hände in die Erde und presste die Zähne so fest aufeinander, dass sie kurz davor waren zu brechen. Seine Handgelenke dampften vor Hitze, nur um im nächsten Augenblick in Eiseskälte zu erstarren. Das Gleiche passierte mit seinen Armen, Knien und den Fußgelenken. Als diese Schmerzen kurz abklangen, spürte er plötzlich einen Knoten in seinem Bauch, der pulsierend wuchs. Wie ein Samen, der aufging und seine Triebe in alle Richtungen streckte, fühlte er, wie es sich hundertfach in seinem Inneren dehnte, schlängelte und ausbreitete. Er krümmte sich zusammen, lag da wie ein Neugeborenes, sog gierig die Nachtluft ein und wehrte sich nicht mehr, hoffend, es sei gleich vorbei. Doch das war es nicht. Nur einen Herzschlag später dröhnten die Geräusche der Nacht in seinen Ohren, so gellend laut, dass er wimmernd die Hände davor hielt. Seine Kieferknochen knirschten und seine Augen stachen, als würden sie nach innen gezogen. Der Geruch der Erde, des Grases und des Windes explodierte in ihm. Etwas bog mit scharfen Krallen seine Schulterblätter auseinander und wollte sich dort hineinwühlen. Das war zu viel. Ein donnerlauter Schrei löste sich aus seiner Kehle, fremdartig und doch endlich befreiend. Spitz und rauschend, jaulend und heulend und irgendwo dazwischen seine eigene Stimme, die bis zum Schluss blieb und als letzter, einsamer Ton im Wind verging. Benommen rollte er auf den Rücken und wartete auf den Tod. Blinzelnd blickte er hinauf in den Himmel. Die Sterne waren so nah, als würden sie unter einer Höhlendecke hängen. Und sie hatten sich verschoben! Sein Atem wurde flacher und ruhiger. Unter sich spürte er seine kühle, fruchtbare wunderschöne Insel. Es schien, als sei zwischen Himmel und Erde die Distanz verkürzt worden. Fühlte sich so der Tod an? Seine Sinne traten mehr und mehr aus dem Nebel des Schmerzes, zurück zu ihm. Jetzt erkannte er es. Nicht die Distanz war verkürzt worden - sein Körper hatte sich erweitert. Fein wie Spinnenfäden fühlte er noch etwas anderes in sich.
«Oh, Enya», flüsterte er. «Warum hast Du das nur getan?»
Als er sich umsah, fühlte er auch körperlich, dass die Zeit selbst mit ihm gereist sein musste.
Der Gezeitenzauber hatte also seinen Weg gefunden. Doch wie lang?
Der Krieger holte ein paar Mal tief Luft, um zu akzeptieren, dass womöglich eine unbekannte Menge Wellen gegen diese Küste gebrandet sein mussten, seit er das letzte Mal hier gewesen war. Doch das änderte nichts daran, dass er jetzt hier auf diesem Boden stand, diese Luft atmete und auf diesen Körper herunterblickte, welcher noch immer, offenbar ohnmächtig, zu seinen nackten Füßen lag. Also schob er seine Arme darunter, hob den leblosen Körper auf, schulterte ihn wie einen Sack Getreide und machte sich auf den Weg.
Die Wälle waren verschwunden, doch die Rundfestung stand noch dort, wo sie hingehörte. Aber es war nur mehr eine Ruine. Er blieb stehen und schaute die fast fünf Schritte hohen Steinmauern an, die einst aufgeschichtet worden waren, um Wissen, Weisheit und Einfluss zu schützen. Jetzt sahen sie aus wie kalte Geister. Grau und einsam ragten sie in den Himmel. Verlassen, auf immer still. Er durchschritt den alten Torbogen. Nichts war mehr da. Nur stumpfes niedergetrampeltes Gras und der Geruch regennasser Steine. Es hatte keinen Zweck, sich allzu viele Gedanken dazu zu machen. Er brauchte warme Kleidung
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