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Die Bestimmung

Die Bestimmung

Titel: Die Bestimmung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Kellen
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endlich laufen. Die beiden ungleichen Männer verabschiedeten sich stumm. Liran schickte den Wolf als Vorhut, rief seine Sinne, drückte noch einmal die Schultern durch und lief los. Zuerst in einem leichten Trab, dann schneller, bis er schließlich rannte und in der Dämmerung verschwand.
    Es war wie ein wilder Rausch, mit allen Sinnen gleichzeitig durch die Hügel zu rennen. Liran spürte – während der Wind in seinen Ohren pfiff und der Boden unter seinen langen Schritten dahinglitt – dass er aufpassen musste, sich nicht in diesem Gefühl zu verlieren.
    Auch wenn dies nicht mehr seine Zeit war, so war es dennoch seine Inse. Er kannte jeden Fluss, jeden Hügel und jeden Berg. Er hielt sich östlich, am großen See vorbei, dann südlich an der Küste entlang und wieder ins Landesinnere. Er vermied jeden Kontakt mit diesen Straßen, Städten und allem, was zu hell war. All dem, wovor Atticus ihn gewarnt hatte. Er ließ links und rechts die Bergketten an sich vorbeiziehen, bis er an einen kleineren See kam, und zum ersten Mal, nach vielen Stunden, völlig erschöpft anhalten musste.
    Er stützte die Hände auf seine Knie und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Seine Lunge rasselte, seine Beine fühlten sich nicht gut an, sie zitterten. Und als er auf das Wasser sah, waberte das narbige Antlitz des Mondes darin, als wolle dieser sein Haupt schütteln und sagen: Selbst die Magie wird nach so einem irren Lauf mal schwach, Du Dummkopf!
    So ging das nicht , dachte er verzweifelt und zunehmend wütend. Ich kann nicht den ganzen Weg bis zur südlichen Küste in diesem Tempo weiterrennen. Das alles lief ganz falsch. Nichts war mehr an seinem Platz. Es sollte keine Städte und Straßen geben, keine verkehrte Zeit, kein verdammtes Hamburg, das soweit von seinem Herzen entfernt war wie die Sterne. Plötzlich fiel ihm etwas auf. Diesen See kannte er ebenfalls nicht. Er hatte ihn noch nie gesehen. Kein einziges Bild der Erinnerung ließ sich damit vergleichen. Was hatten die Menschen nur mit seiner Insel angestellt? Warum nur waren sie so besessen darauf, alles verändern zu wollen?
    Wie symmetrisch der See war. Kreisrund. Mit dem Auge konnte man seine Ganzheit erfassen. Es wirkte, als wäre er eben erst durch den Boden gesickert, oder als hätte jemand eine dunkle Metallscheibe fallen gelassen. Liran trat an das Ufer und blickte auf die schwarze glatte Oberfläche. Er ging in die Knie und tauchte seine Hand hinein, weil er nicht einmal sicher war, ob das wirklich Wasser war, was da vor seinen Augen schimmerte. Es fühlte sich ungewöhnlich warm an. Irgendwie nicht wie Wasser, sondern wie … mit einem Ruck wich er zurück. Dort unten schimmerte ein Gesicht. Ganz langsam stieg es zu ihm empor, ohne dass es eine Welle warf. Liran machte ein paar Schritte rückwärts, umfasste den Griff seines Schwertes. Der See lag weiter da, wie ein fest gespanntes Tuch, als plötzlich ein Kopf daraus auftauchte. Nasse glatte Haare, eine Stirn, Augen und Nase folgten, dann ein Mund, der wunderschöne Lippen hatte und von dem Tropfen perlten, die ebenfalls keine Wellen schlugen. Schultern voller Kraft, schließlich ein paar Brüste, die so vollkommen waren, dass es ihm fast den Atem raubte. Eine nackte Frau stieg aus dem See und blieb direkt an seinem Ufer stehen. Ihre Beine aber waren knochig. Es waren die Beine eines … Und dann tauchte noch ein Kopf auf. Spitze Ohren durchstießen die Oberfläche, und dieses Mal bewegte sich das Wasser, als würde es jemandem respektvoll Platz machen. Der Kopf des Pferdes war so rein und edel, wie der Krieger es noch nie zuvor gesehen hatte. Kein Tropfen blieb an seiner langen Mähne und seinen Flanken haften. Jetzt wusste er auch, woran ihn die Berührung des Wassers erinnert hatte – an ein weiches warmes Fell.
    Die Stute stieg voller Anmut aus den Fluten und blieb neben der nackten Frau stehen. Das Fell war weiß wie das einer Sommerwolke. Seine hohen schlanken Beine waren dieselben wie die der Frau. Stumm und ohne eine Regung schauten ihn die großen dunklen Augen an, in die sich nicht einmal das Mondlicht schleichen konnte.
    Liran wusste, wer dort vor ihm stand, und wagte nicht, sich zu rühren. Es war die Herrin der Pferde! Die Hand hatte er längst vom Schwertgriff gelöst. Sollte er niederknien? Nein, das war nicht seine Art, selbst wenn eine Legende vor ihm stand. Der Einzige, vor dem Du dein Haupt beugen solltest, bist Du selbst! Das hatte seine Mutter zu ihm gesagt. Sprich Dank, wenn Du es

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