Die Bestimmung
Ċara, nicht wahr, der Gezeitenkrieger?» Sie schwieg einen Wimpernschlag.
«Warum merke ich das erst jetzt?»
Etwas passte plötzlich nicht mehr. Ihre Stimme im zweiten Teil der Frage war eine Nuance tiefer geworden, ihr Fuß baumelte jetzt im Fluss, ohne dass er ihr Lachen dabei bemerkt hatte. Der Wald hörte sich anders an. Als er sich umdrehte und sie endlich doch ansah, da wusste er, warum.
Nilah spürte, wie etwas durch ihre Haut kroch. Sie hatte schon oft wilde, kaum zu deutende Träume gehabt, hatte sogar einige davon aufgeschrieben, aber das, was gerade passierte, war neu.
Sie fühlte, dass sie Nilah war und dennoch war sie es nicht. Sie hörte einen Wald um sich herum, der voller Klänge war. Sie hörte Wasser fließen, ganz nah bei sich und doch war alles so entrückt. Sie schaute auf ihre nackten Füße, die über Gras, Laub und kleine Äste schritten. Sie roch etwas, das sie noch nie gerochen hatte. Dennoch erkannte sie es. Als sie auf die Lichtung trat und mit ihrem Blick dem Fluss folgte, der wie eine hohe Treppe durch die Bäume fiel, sah sie ihn auf einem umgefallenen Baum sitzen. Sie erkannte ihn.
Sie setzte sich neben ihn und konnte nicht anders, als ihren Fuß in das kalte, herrliche Wasser zu halten. Wie erfrischend es war, als die Strömung über ihren Spann strich. Wunderbar. Sie musste lachen.
Sie blickte ihn an. Die langen Haare verbargen sein Profil. Nilah erkannte eine Verbundenheit, die sich wie eine warme Hand anfühlte.
«Warum merke ich das erst jetzt?», fragte sie, und dabei hatte sie nicht einmal ihre Zunge bewegt. Sie hörte noch das Echo einer anderen Frage: «Du bist mein Anam Ċara, nicht wahr?» Und sie spürte etwas Salziges auf ihrer Lippe. Der Geschmack tat weh.
Er drehte sich zu ihr um. Da waren sie wieder. Diese unheimlichen blauen Augen, die aus zu vielen Schattierungen dieser Farbe bestanden. Ihr Herz stach. Von ihrem Bauch aus stieg ein Kribbeln bis hoch zu den Ohren.
«Wie soll ich Dich nur beschützen, wenn Du nicht einmal hier bisst», fragte er. Seine Stimme war dabei so unendlich traurig.
«Dann komm doch zu mir, wenn es so wichtig ist», antwortete Nilah . Wieder waren die Worte eher ein Bild, denn Laute. Plötzlich wollte sie genau das. Sie wollte ihn bei sich haben, um alles auf der Welt.
«Wie denn?», erwiderte er hart, stand auf und warf einen Kiesel ins Wasser. «Wie den Fluch brechen, der mich an diese Erde, diese Insel bindet?»
«Was für ein Fluch?»
Plötzlich hielt er inne. Sein Gesicht wurde blass vor Schrecken. Kaum hörbar murmelte er: «Von Ost nach West wirst Du gebunden, von Nord nach Süd, gefesselt bleiben. Dein Herz, Dein Leben wird vergehen, wenn Du weiter willst, als die Meere sich dehnen.» Er knurrte. «Dieser Wahnsinnige! Er hat es gewusst. Er hat geahnt, dass sehr viel Zeit vergehen wird, bevor ihn irgendjemand aus seinem Gefängnis holen würde. Und er hat geahnt, dass ... dass Du nicht länger von hier stammen musst. Dein Blut ja, aber nicht der Körper, in dem es fließt. Damit hat er das einzige Hindernis aus dem Weg geräumt, dass ihm die Stirn bieten kann – mich!» Liran sah sich mit wilden Blicken um, als suche er dringend etwas, das er in Stücke schlagen konnte.
Nilah verstand es noch immer nicht. Sie traute sich kaum erneut zu fragen, so finster wirkte der Krieger. «Ich verstehe das nicht»!
Liran drehte sich zu ihr um. Er kam auf sie zu und hockte sich vor sie hin. Nilah musste schlucken. Sie freute sich, dass ihre Hände gefaltet in ihrem Schoß lagen. Sie hätten sonst bestimmt gezittert.
«Ich kann Dir jetzt nicht erklären warum, aber ich bin hier, um Dich vor jemandem zu beschützen. Ich weiß, dass Du das alles von dir wegschiebst, dass Du all das, was Du schon erlebt hast, nicht an Dich 'ranlassen möchtest. Ich kann das verstehen, glaub' mir. Für mich ist es auch nicht leicht, mich damit abzufinden, dass mehr als 2000 Jahre vergangen sind. Aber auch wenn es verstörend ist, es ist nicht wichtig, verstehst Du?» Seine Stimme war so eindringlich, dass sie ihm glaubte.
Nilah konnte ihm nicht länger in die Augen schauen. Man konnte darin schwimmen und sie fürchtete zu ertrinken.
«Wichtig ist nur, dass ich diese Insel nicht verlassen kann. Ich kann auf keiner anderen Erde schreiten, als auf dieser, meiner Heimat. Wenn Du also etwas weißt, dass diesen Fluch brechen kann, dann sage es mir, bitte. Wenn es jemand kann, dann Du!»
Wie ein Funke kam die Antwort und ein Lächeln huschte über Lirans
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