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Die Bestimmung

Die Bestimmung

Titel: Die Bestimmung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Kellen
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empfindest, sage, dass Du folgst, stirbst, den Himmel einreißt, wenn nötig, aber folge dabei niemandem, außer Dir selbst! Niemals würde er diese Worte vergessen.
    Dann senkte die Stute den Kopf. Die Frau legte ihr behutsam die Hand auf den Hals. Es schien wie eine uralte Zwiesprache. Die Beine der Frau hatten sich verändert und waren jetzt die eines Menschen. Begehren wühlte sich kurz in Lirans Gedanken. Erstaunt stellte er fest, dass das Gras unter ihren Füßen aufgerichtet blieb.
    Das Pferd trat schnaufend aus und stellte sich vor ihn. Für einen Moment hatte Liran das Gefühl, in dessen Augen zu verschwinden. Als er wieder aufsah, war die Frau nicht mehr da. Mit einer sanften Bewegung stupste die Stute ihn vor die Brust. Träumer , hörte er in seinen Gedanken. Sprich Dank, wenn Du ihn empfindest!
    «Danke», flüsterte Liran dem See entgegen.
    Als er auf den Rücken des Pferdes stieg und die Wärme unter sich spürte, wurde er schlagartig müde. Es schien, als ruhe sich alles gleichzeitig in ihm aus. Seine Gedanken, sein Zorn und seine Magie. Als sich die Hufe der Stute in die Erde gruben, über das Land hinwegfegten, als er auf diesem wunderbar weichen Rücken saß, die Muskeln sich unter ihm spannten wie Windböen, er nach vorn kippte und die Arme um den Hals schlang und keine Bewegung mehr spürte, da schloss er seine Augen und glaubte für einen kurzen und ganz hellen Moment, alles würde gut werden.
     

Der gleichzeitige Traum
    Als er die Augen aufschlug, war er an dem schönsten Ort, an den er sich jemals erinnern konnte. Die Luft roch nach sattem, grünem Gras, nach dem herben Harz der Bäume und klarem, kaltem Wasser. In der Luft schwirrten die Töne des Waldes und die Pollen blühenden Lebens. Er sog alles in sich auf, benommen von diesem berstenden Leben. Der Klang des schmalen Flusses rauschte in seinem Kopf. Fast dreißig Schritte weiter tauchte er aus dem Wald auf und ergoss sich in treppenförmigen Kaskaden. Nasse dunkle Felsen, von Moos bewachsen, lagen wie Geröll in seinem Bett, so vorbestimmt und unbekümmert, wie nur die Zeit es formen konnte. Es war eine tiefe Ruhe, die Liran kannte. Er wusste, es würde das letzte Mal sein, dass er sie spüren würde. Wie eine durchsichtige Ader goss der Fluss seinen Weg in die Welt. Zum ersten Mal verspürte Liran so etwas wie alte Zuneigung. Zuneigung, die fern aller Dinge war, die er kannte. Kein Meer, keine Schwester, weder Mutter noch Vater, nicht Stamm oder Pflicht.
    Alles war frei. Er wollte hier sitzen bleiben und zuhören. Bis an das Ende aller Tage. Nur lauschen und verstehen. Alles andere hatte er so satt. Doch etwas verdunkelte sich in seinem Kopf, glitt hinunter in seinen Magen, schlug und griff nach ihm. Es tat weh, und das hatte er nie gewollt.
    «Liran?», erklang es leise hinter ihm: Er hörte schon an der Stimme, wer es war. «Hörst Du wieder dem Fluss beim Fließen zu?», fragte sie und setzte sich neben ihn auf einen schon vor langem umgefallenen Baumstumpf. »Ich dachte, Du wärst im Tal bei den anderen. Aber als Du nicht dort warst und niemand anderer Dich gesehen hatte, da dachte ich mir, wo Du bist.»
    Nein, er wollte ihr nicht in die Augen sehen. Sein Herz tat weh, wenn er es tat. Ihre Augen hatten die Farbe von Torf in der Sonne. Ihre Haare waren die eines schlauen Raben und ihre Stimme brachte ihn jedes Mal so durcheinander, dass er lieber schwieg, als etwas zu erwidern, was ihn ohnehin nur in heillose Schwierigkeiten bringen konnte. Er drehte stattdessen einen Flusskiesel in seiner Hand, starrte in das vorüberströmende Wasser und hielt den Mund. Ihre nackten Füße baumelten von dem Stumpf. Sie versuchte immer wieder, einen ihrer Zehen in den Fluss zu stecken. Aber wenn sie es schaffte, atmete sie tief ein und prustete: «Huu, ist das kalt!» Sie lachte sorglos.
    Liran kniff die Lippen aufeinander und schluckte herunter, was er sagen, was er endlich einmal loswerden wollte.
    «Ich habe gehört, Du wirst es tun?», fragte sie leise. Er spürte, wie sie ihn dabei ansah.
    Er nickte nur. Er konnte ihr nicht ins Gesicht sehen. Er würde mehr wollen, wenn er es tat. Die Narben, die dort in ihre Haut gebrannt waren, sah er gar nicht, und er fragte sich, warum das so war, obwohl er die Antwort darauf längst kannte.
    Dann nickte auch sie.
    «Habe ich mir schon gedacht.» Dass dabei eine Träne über ihre Wange lief und auf ihrer Lippe für einen Moment innehielt, bevor sie sie fortwischte, das sah er nicht.
    «Du bist mein Anam

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