Die Bestimmung
bersten lassen könnte. So stand sie still und hielt den Atem an, um besser hören zu können. Doch selbst die Geräusche, alle Alltäglichkeiten, waren wie herausgetrennt aus der Zeit. Ihr pochte das Herz wie taumelnd gegen die Brust.
Plötzlich war da ein Flüstern, so nah an ihrem Nacken, dass sie instinktiv danach schlug. Ihre Augen zuckten, als wollten sie es damit fortscheuchen. Doch dann kam es noch näher und wisperte direkt in ihrem Ohr. Sie keuchte, versuchte es wegzukratzen, dann hörte es auf. Sekundenlang wagte sie es nicht, sich zu bewegen. Nicht bewegen bedeutete, dass nichts passiert. Sie wollte nach Liran rufen, in dieser Schwärze schien er so weit weg, dabei waren es höchstens drei Schritte. Er war es, der sie beschützen sollte.
Das Licht kehrte zurück. Alles ging gleichzeitig wieder an und brachte den Sehenden die Welt zurück. Doch es schien, als hätte es auf seinem kurzen Weg in die Schwärze einen Teil seiner Energie verloren. Alles wirkte gedämpft und blass.
Erleichtert sah sie Liran dort liegen. Regelmäßig atmend. Sie war nicht mehr allein. Sie stand vor dem Fenster und sah hinunter zum Fleet.
Magie
Als Nilah die große Gestalt am Ende des Gartens wahrnahm, war es, als zöge sich ihre Haut zusammen. Dort, im Zwielicht der Bäume, stand sie. Gebeugt, verborgen, kalt und starrte sie an. Und nur einen geblinzelten Gedanken, einen nicht ganz vollendeten Atemzug später stand sie plötzlich mitten auf dem Rasen, geduckt unter den Ästen des Ahornbaums. Regungslos. Als hätte sie nicht einen Schritt getan.
Nilah fühlte, wie ihr ganzer Körper sich für eine Panik sammelte. Sie spürte, dass das, was dort draußen im Garten stand, um ihretwillen hier war. Plötzlich, es war nur ein Wimpernschlag, war die Gestalt nicht mehr da. Fort. Sie brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, um zwischen dem Entsetzen, der Flucht und dem Kampfgefühl einen Gedanken zu erwischen, der nicht zitterte. Mit wackeligen Knien machte sie einen Bogen um den Tisch.
«Liran?» Fast behutsam tippte sie ihm auf die Schulter. Ihr Blick behielt den Garten im Auge. «Liran ... ich, Du ...», weiter kam sie nicht. Ein einziges Wort hallte wie eine Blase durch jede Wand, jeden Stein, der dieses Haus zusammenhielt. Es wogte kalt wie Eis.
Schöpferseele ...
Nilah rang nach Atem. Das Wort brach durch ihre Poren, krallte sich durch die Rippen und umklammerte ihr Herz. Von wo war es gekommen? Es war hier im Haus! Ihre Hände wurden feucht vom Schweiß. Ein Stoß des ‚Überlebenwollens‘ ließ sie in die Küche rennen, wo sie aus dem Messerblock das längste, gefährlich aussehendste Messer zog und es tapfer vor sich hielt. Über ihr knarrte die Decke. War jemand in ihrem Zimmer? Mit dem riesigen Messer in der Faust trat sie in den Flur und spähte die Treppe hinauf. Nichts.
Schöpferseele ...
Wieder hallte dieses Wort durch ihren Körper wie kalter Nebel. Nilah war kurz davor, den Verstand zu verlieren. Sie spürte, wie ihr schwindelig wurde, wie sie kaum Luft bekam, sie spürte so deutlich wie nie ihr Herz, das sich mit einem Kraftakt geradezu gegen den Pullover stemmte, nur um weiter leben zu können. Sie fühlte, dass ihre Muskeln vom Adrenalin überschwemmt wurden, und das Messer in ihrer Hand zitterte. Verdammte Scheiße , dachte sie, lass mich das hier überleben, lass mich das hier ...
Plötzlich regte sich etwas in ihr. Wie ein Tau, das sich spannte, fühlte sie einen Gedanken, ein Bild, als würde ein mächtiges Wesen brüllend an Ketten zerren. Für einen Moment schloss sie die Augen, um dieses Bild zu halten. Für einen Moment war ihr Atem so kraftvoll.
Als sie wieder aufblickte, stand er vor ihr.
Sie erstarrte. Das Messer fiel zu Boden. Sie erkannte ganz klar, wie Griff und Klinge auf dem Boden tänzelten. Doch sie hörte nicht ein Geräusch dabei. Der Anblick, der sich ihr bot, riss Nilah alle Hoffnung aus dem Leib. Finsternis war in einen Schatten gekrochen. So dunkel, dass der Raum sich darum krümmte und darin verschwand. Blutrotes Haar wehte wie von einem anderen Wind, einem anderen Ort, getrieben um ein Gesicht, das keinerlei Menschlichkeit besaß, weil es so voller anderer Menschen war. Es schien, als habe man unzählige Gesichter durch ein unförmiges Drahtgitter gepresst und daraus ein Neues geformt. Schartige Linien trennten die verzerrten Züge voneinander. Nichts war an seinem Platz, weil nichts wirklich an diesen Platz gehörte. Alles wirkte schief, verdreht und falsch. Auf
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