Die Bestimmung
dem gebeugten Rücken ein aufragender Buckel, unter dem sich etwas bewegte. Die Arme baumelten leblos an den Seiten, und mit Schrecken erkannte Nilah, dass der rechte Arm in vielen knorrigen Wurzeln endete. Wild und schlingernd bewegten sie sich. Die ganze Gestalt strahlte ein solch rohes Wesen aus, dass Nilah einfach auf die Knie sank.
Du bist nicht, wer Du bist ...
Die rissigen, von einem tiefen Spalt zerfurchten Lippen bewegten sich und dunkles Wasser quoll aus ihnen hervor, lief in schmalen Rinnsalen an den Narben entlang.
Staub der Vergangenheit ist Deine Seele ...
Nilah hockte da und starrte auf diese herabfließenden Worte. Sie hörte sie nicht in ihren Ohren, sondern in ihrem Körper. Sie waren so klar, so rein.
Du bist gar nichts ...
«Und Du bist nicht einmal hier!»
Auf Lirans Brust prangte das Bild eines Baumes. Blaugrün war es, in ungeheuerlich schimmernden Farben. Und mit einem Mal bewegten sich die Äste dieses Baumes mit einem leisen Rauschen, das wie ferner Wind klang. Sie bewegten sich über Lirans Haut wie verlaufende Tinte – als würde der Baum aus einem langen Schlaf erwachen. Er breitete die Äste aus, zog sie hoch über den Stamm und drehte sich. Man sah keine Augen, kein Gesicht und doch schien der Baum sich umzusehen.
Und dann geschah das Unglaubliche. Er wuchs aus der Haut heraus. Streckte seine mit schlanken Blättern besetzten Zweige mitten in den Raum und senkte sie bedächtig wie jemand vor einem Kampf, ließ das Holz krachen und streckte sich weiter voran, wobei seine dicke Rinde knarzte. Dann drehten sich einige mächtige Äste ineinander, wobei ein fürchterliches Knacken zu hören war.
Der Schatten senkte bedrohlich den Kopf und wand sich wieder ihr zu:
«DU - BIST - NICHTS! ER - IST - NIEMAND! DIE - WELT - IST - MEIN!
GIB - ES - MIR - ODER - DU - WIRST - VERGEHEN!»
All seine Dunkelheit sickerte binnen Herzschlägen in den Boden, während sein kaltes Flüstern für ein kurzes Echo zurückblieb.
«FOLGE - IHM - UND - DU - GEHST - IN - DEN - TOD!»
Im nächsten Augenblick sackte Liran zu Boden.
Nilah sah wie der Baum sich in die Haut des Kriegers zurückzog und gänzlich darin verschwand. Sie hatte gerade wirkliche Magie erlebt und zwar so nah, dass sie glaubte, ein Teil davon zu werden.
Sie atmete ein paar Mal tief ein und wieder aus, ging zittrig und wie betäubt ins Wohnzimmer zurück, wählte Peters Nummer, während ihr der Mund voll Spucke lief und sie immer wieder schlucken musste. Peter sagte, er sei schon im Auto und gleich da. Sie ging wieder in den Flur, setzte sich neben Liran auf die schwarzweißen Schachbrettfliesen, sah in sein Gesicht und fing an zu weinen, ganz leise.
Zwei Männer waren nötig. Ihr Vater und Peter stöhnten, aber sie bugsierten Liran die Treppe hinauf in Nilahs Bett. Sie wollte es so. Er sollte nicht länger auf dem Sofa liegen. Peter war es völlig egal, in welchem Raum er das Fieberthermometer benutzte, aber ihr Vater sah sie an, als habe er mehr Worte in den Augen als auf den Lippen. Doch er schwieg. Wie so oft.
Das Fieber war auf 42,4° C gestiegen.
Peter bestand nun doch auf ein Krankenhaus. Er fuhr sich durch die wenigen Haare und beharrte darauf, dass dieser Mann dringend auf eine Intensivstation gehöre, wenn man ihm wirklich helfen wolle. Aber Nilah, die das Ausmaß dessen gesehen hatte, was in Lirans Körper steckte, stemmte sich entschieden dagegen und zwang Peter schließlich zu einem resignierten Schnauben. Niemand, schon gar nicht irgendwelche Ärzte, die sicher sofort Alarm schlagen würden, durften erkennen, dass dieser Mann aus einer anderen Zeit stammte und einen lebenden Baum in sich hatte.
Er hatte ihr jetzt schon zum zweiten Mal das Leben gerettet. Er war mit über 42° C Fieber einfach aufgestanden und hatte dieser Kreatur tatsächlich Angst gemacht. Das hatte sie in den hasserfüllten Augen gesehen. Kurz nur, aber sie hatte sie gesehen. Und etwas, das Angst kannte, wollte überleben, und etwas, das überleben wollte, würde jetzt sehr viel vorsichtiger sein, damit das auch so blieb.
Die ganze Nacht saß sie neben Liran. Sie hatte nur eine Kerze auf ihrem Schreibtisch angezündet, die Schatten in dem Zimmer tanzen ließ. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass elektrisches Licht einfach nicht passte.
Ihr Vater hatte sich nach unten verzogen, aber nicht ohne ihr ein paar Blicke zu geben, die Nilah so wenig mochte. Es waren diese besorgten ‚Vater‘-Blicke, nur ein Millimeter vom Augenrollen entfernt
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