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Die Bestimmung

Die Bestimmung

Titel: Die Bestimmung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Kellen
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Doch dann öffneten sich Lirans rissige, ausgetrocknete Lippen, ganz langsam, als bedürfe es großer Anstrengung.
    «Schwärze», krächzte er kaum verständlich. Nilah ging in die Hocke und hielt ihr Ohr so nah wie es eben ging an seine Lippen. «Die Feuerschiffe fallen … im … Winternebel …»
    Nilah erkannte sofort, dass er in der keltischen Sprache redete. Sie hatte nie gut auswendig lernen können, doch sie versuchte, sich die Worte vom Klang her zu merken. Sie würde Atticus danach fragen und hoffen, er könne sich einen Reim darauf machen. Erneut fiel Nilah auf, wie wunderschön die Melodie dieser alten Sprache war. Für einen Moment stellte sie sich vor, wie es sein würde, wenn dieses Erbe noch heute lebendig wäre und man es in halb Europa sprechen würde.
    «… gleiches Herz … schlägt … durch die … Zeit …»
    Krampfhaft schrieb Nilah jetzt die heiseren Worte, so wie sie über die Lippen des Kriegers geflüstert kamen, auf das Cover einer Zeitschrift. Das konnte sie sich nicht alles im Kopf merken. Es würde nur noch Kauderwelsch dabei herauskommen, wenn sie versuchte, es aus dem Gedächtnis zu tun. Atticus würde wahrscheinlich nur totales Durcheinander übersetzen, voller doppelter Bedeutungen, oder manche Worte gar nicht wiedererkennen, weil sie nicht wusste, wie man sie richtig aussprach, und die eventuelle Botschaft wäre dann verloren. Zumal sie davon ausgehen musste, dass Liran sich nicht an seine Worte erinnern würde. Das hatte Fieber so an sich.
    «… Sunabru …, schützen … deinem Blick … entsteht die …»
    Dann trat wieder dieselbe Stille ein wie zuvor und Nilah hatte das Gefühl, dass alles, was jetzt in ihrem Leben geschah, eine ganz eigene Dynamik entwickelte. Eine, die mit der Realität nicht mehr besonders viel zu tun hatte. Das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein, erfüllte sie mit unbekannter Stärke. Und auch wenn sie wusste, dass dieses Gefühl etwas Eitles an sich hatte, so konnte sie es nicht einfach umkehren und Frust oder Wut daraus machen. Sie konnte es nicht, weil sie es nicht wollte. Nicht mehr.
    Als sie gegen Nachmittag – ihr Vater hatte angerufen und gesagt, er müsse noch etwas erledigen – mit einem Apfel aus der Küche zurück ins Wohnzimmer kam, erlebte sie die nächste Überraschung. Die Tätowierungen waren wieder da. Schwach nur, in einem fast durchsichtigen Blau, aber sie waren da.
    Da sie seit Stunden Atticus Finch nicht erreichen konnte, sah sie immer wieder auf die Aufzeichnungen, die sie gemacht hatte. Vor sich hin murmelnd versuchte sie, sich die Aussprache einzuprägen. Sie unterbrach sich nur mit einigen wachenden Blicken auf Liran, der dalag, als sei er in einer Art verwunschenem Schlaf. Aber sie hatte das Gefühl, dass das Fieber nachgelassen hatte. Zwar glühte die Haut noch immer ungewöhnlich heiß, aber irgendetwas in Lirans fast friedlichem Gesichtsausdruck sagte ihr, dass davon keine unmittelbare Bedrohung mehr ausging. Es schien sogar etwas Gutes an sich zu haben. Vielleicht war es ja wirklich die weibliche Heilungskraft.
    Der Tag floss so träge dahin, dass man es nicht einmal richtig merkte. Von grau zu hellgrau und wieder zurück zu grau, das sich jetzt träge, wie ein alter Mann, in die Dunkelheit des Abends schleppte. Nilah war zwischendurch wieder ein ums andere Mal eingenickt und so langsam tat ihr der Hintern weh vom ewigen Sitzen.
    Dann geschah es! Sie bemerkte, dass die Uhr mit einem Mal stehen blieb, dass alles Licht im Raum wie von einem tiefen Atemzug eingesogen wurde. Das Leuchten, das die Leselampen verströmten, zog wie in losgelösten Bändern, die einer fernen Gravitation folgen, durch das Wohnzimmer, ballte sich an einem Punkt zu einem dichten, schimmernden Nebel zusammen, zerfiel dann, verschwand lautlos und hinterließ vollkommene Dunkelheit. Diese dehnte und blähte sich, schloss die Solarlampen im Garten mit ein, die Straßenlaternen, die unten am Weg des Fleetes entlang standen, das Licht in Nachbarhäusern, alles sammelte und verdichtete sich, nur um zu erlöschen.
    Sofort war Nilah auf den Beinen. Doch wohin sie auch blickte, von dem Raum, den sie in-und auswendig kannte, war nichts als Dunkelheit übrig geblieben. Es war, als hätte man sie in ein Fass gesteckt. Sie erkannte nichts mehr. Weder wo die Tür war noch Liran, und sie wollte um nichts auf der Welt die Hand ausstrecken, denn ein immer größer werdender panischer Gedanke in ihrem Kopf glaubte in etwas zu greifen, das ihr Herz vor Angst

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