Die Bestimmung
und dem Satz: Was habe ich dir immer gesagt?
Ihre Augen blieben an Lirans Gesicht haften. Es war so traurig und gleichzeitig so stark, dass es ständig seine Form zu verändern schien und somit in jeder Sekunde, die sie es betrachtete, neu und aufregend war. Was hatte er wohl alles erlebt? Das, was sie aus Geschichtsbüchern und Fernsehdokus kannte, war das sein Leben gewesen? Er hatte Dinge gesehen und Menschen erlebt, die für Nilah nur ein paar Absätze in einem Buch waren. Seine Hände waren groß und schlank, so gar nicht wie die eines Menschen, der vor über zweitausend Jahren schon gelebt hatte. Irgendwie hatte sich Nilah alles klobiger vorgestellt. Raue, dreckige und schwielige Pranken, geformt von einem anstrengenden, wilden Leben, in dem man nur ans Überleben denken musste. Aber diese Hände wirkten … seltsam sanft.
Überhaupt hatte sie ein ganz anderes Bild im Kopf, seit sie im Internet nach der Schlacht von Alesia gesurft hatte. Keltische Krieger sahen für sie eher furchteinflößend aus. Bärtige Raubeine, kleine menschliche Panzer, die über ein Dorf hinwegrollen konnten wie ein wütender Tornado. Vielleicht lag es an den Bildern, die man gemeinhin von Kinofilmen kannte.
Liran! Zum ersten Mal fiel ihr auf, was für ein schöner Name das eigentlich war. Er schien wie etwas, von dem man nicht glaubte, dass er wirklich existierte, nicht existieren dürfte, weil es nun einmal nicht sein konnte. Er wirkte unglaublich menschlich. Dieses Gesicht, das schlafend zwischen den langen schwarzen Haaren ruhte. Es sah so wissend aus, dass Nilah nicht von ihm lassen konnte und sich trotzdem fragte, warum das so war. Wie konnte man es nicht anschauen , dachte sie und seufzte tief. Die geschwungenen Brauen, die feinen Falten auf der Stirn, der man anmerkte, dass sie oft die Form von Besorgnis angenommen hatte. Die hauchdünnen Lachfalten auf den Wangen. Die Form der Nase, die ein wenig zornig zwischen all den weichen Linien wirkte, als sei sie der Teil, der das Gesicht zum Kämpfen bringen konnte. All das sah sie sich wieder und wieder an. Sie merkte nicht einmal, dass ihr Herz ein wenig schneller dabei schlug.
Nilah wurde neugierig. Sie beugte sich vor und betrachtete die Tattoos genauer, als könne sie dadurch verstehen, warum dieser Mann so intensiv auf sie wirkte.
Jetzt hatte sie ihn ganz für sich. Nur ihre Augen, die ihn betrachten konnten. Die helle Decke lag nur ein wenig über den schmalen Hüften, und alles darüber hatte eine erschreckend wilde Aura. Sie wühlte in ihren Haaren, ließ den Kopf hängen und seufzte erneut. Ein schwerer Seufzer von ganz hinten aus der Kehle.
Zum ersten Mal wurde Nilah bewusst, dass er ein Mann war. Sie holte angespannt den Atem zurück, mehr schnuppernd. Da war etwas, dass sie kirre machte, ganz und gar. Und doch ...
Dieser Körper sah aus wie eine trainierte Waffe. Geformt, nicht um der Schönheit willen, sondern um zu überleben. Die breiten Schultern stark, die Arme ausgeprägt. Die Brust wie ein Schild, der Rumpf voller List. Jeder Muskel hatte sein Dasein, war gespeicherte Bewegung. Tödliche Eleganz, die losgelassen werden wollte.
Das Licht der Kerze grub schwarze Schatten in die Mulden seines Bauches, durch welche die blauen Zeichnungen wie eiskalte Flüssen glitten. Und keine einzige Narbe zu sehen. Wie war das möglich? Blaue Farbe war auf seiner Haut. War sie wirklich darauf? Oder darin? Die Zeichen, die wie Wellen aussahen, unterschieden sich kaum von denen, die wie Flammen gemalt waren. Von den Handgelenken hinauf, über die Schultern, bis zum Hals wirkten sie wie mit einem Pinsel aufgetragen, nicht mit einer Nadel gestochen. Fast noch feucht schien die Farbe, so lebendig und ... real! Ganz vorsichtig hob Nilah die Hand, schaute dabei nach den Augen Lirans und fuhr ganz sanft über eine der Linien, die eine Welle darstellte.
Sie blickte auf ihren Finger, der in Lirans Poren eintauchte als wäre es wirkliches, echtes Wasser. Mit offenem Mund zog sie ihn wieder heraus. Es dauerte einige Herzschläge, bis sie begriff, was gerade passiert war. Erschrocken hielt sie die Luft an. Verwirrt betrachtete sie ihre Fingerkuppe, die eben noch ... sie konnte es nicht glauben. Doch anstatt sämtliche Heilige um Beistand zu bitten, zu fluchen oder den Kopf zu schütteln und in die normale Welt zurückzufinden, breitete sich in ihrem Gesicht ein Lächeln aus, das sie noch nie zuvor gelächelt hatte.
Das war das Intimste, das Wundervollste, das abgefahrenste und krasseste
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