Die Bestimmung
Gefühl, das sie je erlebt hatte. Von einer Sekunde zur anderen lag dort nicht mehr ein Krieger, ein Mann, der ihr Leben in einen Alptraum verwandelte, kein Mensch, der vor so langer Zeit gelebt hatte, dass man Bücher dafür konsultieren musste, sondern jemand, der eine Seele hatte. Eine verwandte Seele.
Dann schlug der Krieger die Augen auf.
Finger strichen durch die langen Haare und begannen sie zu flechten. „Du hast nie geweint, wusstest Du das?“ Sie machte weiter, leise summend. „Mutter hatte Angst, Du könntest Deine Stimme im Meer verloren haben, aber ich wusste es besser. Nein , dachte ich mir, mein Bruder kämpft nur anders. “
Ihre Stimme klang zärtlich - fast neidisch. Sie knotete ein weiches, blau gefärbtes Lederband um das Ende des Zopfes, nickte zufrieden und widmete sich der anderen Seite.
„Immer wieder warst Du wie vom Erdboden verschluckt. Meist fand ich Dich im Wald oder am großen Wasser. Weißt Du noch wie Du eines Tages diese ungewöhnliche Muschel gefunden hast? So flammend rot war sie, dass Du sie zurückgeworfen hast.“ Wieder verknotete sie das Haar mit dem blauen Leder. Dann setzte sie sich hinter ihn, nahm die beiden Zöpfe auf, legte sie behutsam um den Hinterkopf und begann sie dort mit einem weiteren Band zu umwickeln. Ihr warmer Atem kroch in seinen Nacken. Sie küsste sein Schulterblatt.
Summend nahm sie das verklungene Lied wieder auf, das nur ihr eigenes Herz kannte. Es klang traurig, wie schwere Wolken am Himmel. „Als ich Dich schwimmen lehrte, hast Du mich gehasst.“
Er hörte ihr Lachen und tat es selbst. „Du hast mich auf die Brust geboxt, aber noch mehr hat Dein Blick wehgetan.“ Ihre Hände fuhren durch sein Haar, glitten dann von den Schultern den Rücken hinab.
„Keine einzige Narbe, Bruderherz, wie hast Du das nur angestellt?“
Er löste sich aus ihrem Bann, drehte sich um und sah sie an. Klare, mutige Augen. Blondes, wildes Haar. Morgen würde es weiß sein. Eine seltsame Einsamkeit in ihrem Blick. Der scharf geschnittene Mund, schön und so stolz wie die Sonne. Er wollte etwas sagen, doch er konnte es nicht. Sie war alles, was er noch hatte. Sie zu verlieren würde ihn in Stücke reißen. Sie tauchte sanft einen Finger in die Tonschale, ein Tropfen fiel zurück, und er hörte ihn über das gesamte Land hallen. Sie fuhr damit über seine stummen Lippen. Drei Mal. „Für Vater, für Mutter und für ... mich.“ Eine Träne löste sich während sie es tat. Nicht einmal mehr das Lied war noch da. „Für den besten Fian, den es je geben wird.“ Ihre Hand fuhr über seine Wange wie ein Abschied.
Er wusste es. Hier und jetzt. Er würde in ihrem Blut knien. Es verschlug ihm schier den Atem.
„Warum liebst Du mich so sehr, Ril? Warum?“ Seine Stimme klang unendlich traurig.
Sie sah ihn lange an. Als ob sie sein und ihr gesamtes Leben dabei durchquere. Dann stand sie auf und nahm die Haltung einer Kriegerin an.
Sie weiß es ebenfalls , dachte er. Sie weiß, dass sie nicht zurückkommen wird. Deshalb der Kuss! Er wollte sie festhalten, sie in sich selbst verstecken, irgendwie.
Plötzlich erschien dieses kämpferische Grinsen um ihren Mund. Er kannte es so gut und sie senkte den Blick.
„Als Du geboren wurdest, da habe ich Dich in der ersten Nacht aus den Fellen gehoben und habe Dir die Sterne gezeigt.“ Sie hielt inne und schien alten Gedanken zu lauschen. „Weißt Du, was ich dann gesagt habe?“ Sie blickte ihn an.
Er formte ein Nein mit den Lippen.
Sie hob den Kopf, reckte das Kinn. „Mein Name ist Ril! Und ich bin eine Fian! Seht Euch vor, auf wessen Seite Ihr steht, denn dies ist mein Bruderherz.“ Sie lachte herausfordernd und ging.
Er stellte sich die kleine fünfjährige Ril im Nachthemd vor, die mit einem Bündel auf dem Arm mitten in der Dunkelheit stand und den Göttern drohte. Da musste auch er plötzlich lachen.
Dann wachte er auf.
Liran sah die Veränderung in ihren Augen, als sie ihm kurz darauf eine lecker riechende Schale mit Essen brachte. Für einen Moment war er geradezu erleichtert. Aber als er es dann aß und ihr anerkennend zunickte, weil es einfach fantastisch schmeckte, musste er ein verkrampftes Grinsen aufsetzen, damit sie nicht merkte, was sie nicht merken durfte. Die Narbe unter ihrem linken Auge zog ihn seltsam an.
«Schmeckt es Dir?»
«Es ist ... es schmeckt gut», gab er zurück und schaufelte wie zum Beweis den nächsten Löffel in sich hinein. Es schmeckte ja auch toll, was konnte er sonst
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