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Die Betäubung: Roman (German Edition)

Die Betäubung: Roman (German Edition)

Titel: Die Betäubung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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Suzan musste erklären, wie du auf der Bildfläche erschienen bist. Sie hatte sich offenbar überlegt, dass es nicht so gut gewesen wäre, mich in so einer kritischen Situation mit einem Exkollegen von der Psychiatrie zu konfrontieren. Fand ich nett von ihr. Irgendwer im psychiatrischen Krankenhaus hatte dann recherchiert, dass du mein Lehrtherapeut warst. Und so weiter und so fort. Bei allem sollte überlegt werden, wie es auch anders gegangen wäre. Als sich herausstellte, dass mir gar nichts fehlte, wurde Tjalling kritisiert. Er habe zu schnell reanimiert.
    ›Sie haben alle in Panik versetzt‹, sagte Vereycken. ›Hören Sie dem jungen Kollegen gut zu. Er wollte sich nicht das Leben nehmen, sondern bekam eine heftige Panikattacke. Sie haben das nicht erkannt. Sie sind selbst in Panik geraten.‹
    Luc sagte, dass er sich Vorwürfe mache, er hätte mich einfach fragen müssen, was denn los sei, wie er mir helfen könne. Aber ein Freund von ihm hat Selbstmord begangen, wie er mir mal erzählt hat. Das nimmt man als Lehre, da verbindet man eine Situation dann im ersten Schreck viel zu schnell mit dem, was man schon einmal erlebt hat. Man schaut nicht mehr genau hin und denkt nicht mehr richtig nach.«
    Drik ist so müde, dass er selbst auch nicht mehr fähig ist, nachzudenken. Zu viele Geschichten schwappen über ihn hinweg, es ist ihm unmöglich, zum Eigentlichen vorzudringen. Was ist das Eigentliche? Etwas mit Vätern, etwas mit Vertrauen. Es ist ihm ein volles Jahr lang nicht gelungen, zu besprechen, welchen Einfluss es auf Allard hatte, dass sein Vater die Familie verlassen hat. Er hat es immer wieder versucht und wurde jedes Mal höhnisch abgeschmettert. Und jetzt? Hör dir seine Geschichte an: Er fühlt sich von dem Professor unterstützt, er hat den Mut, sich hinzustellen und seine Panik einzugestehen. Er ist zu mir auf den Schoß gekrochen, er hat mir vertraut. Er hat es sogar fertiggebracht, sich bei mir zu bedanken. Vielleicht ist das ein Durchbruch in der Therapie, meine Geduld ist belohnt worden. Jetzt muss ich dranbleiben. Wenn ich es richtig anstelle, kann die Behandlung auf einer höheren Ebene weitergeführt werden. Aber ich bin zu müde, ich bringe das nicht mehr fertig.
    Abends schlägt er in der Mitgliederliste der International Psychoanalytic Association die Telefonnummer einer schwedischen Kollegin nach, mit der er seit Jahren zusammen essen geht, wenn sie sich auf einem Kongress treffen. In der Zeit zwischen den Kongressen haben sie nie Kontakt zueinander, aber wenn sie sich dann sehen, ist die Atmosphäre angenehm und vertraut. Sie ist in seinem Alter, sie arbeitet an der Universität, und sie kann gut zuhören.
    Drik ruft sie an. Sie ist zu Hause und hat Zeit. Sie hört zu.
    »Du kannst die verschiedensten theoretischen Konstrukte darauf anwenden«, sagt sie, »aber das hat keine Priorität. Er hat es verstanden, dich in eine Lage zu bringen, die mit der seinen vergleichbar ist: von deiner Familie verlassen, von Personen, die dir am Herzen liegen, isoliert. Ob er das bewusst oder unbewusst getan hat, spielt keine Rolle. Es geht um die Situation, wie sie jetzt ist.«
    »Was soll ich tun?«, fragt Drik. »Sag mir, was ich tun soll.«
    »Du musst damit aufhören. Sofort. Manchmal können wir Menschen nicht helfen, weil sie an alte Wunden von uns rühren. Wir reißen uns zusammen, wir versuchen uns zu schützen, und das kostet uns unsere gesamte Energie. Das blockiert uns, wir sind dem Patienten gegenüber nicht mehr aufgeschlossen. Du kannst diesem Mann nicht helfen. Das ist nicht schlimm, das ist keine Schande – du musst das nur einsehen. Und danach handeln.«
    »Was würdest du sagen?«
    »Die Wahrheit. Dass du die Behandlung abbrichst, weil du nicht damit weitermachen kannst. Aus persönlichen Gründen. Es wäre unredlich, ihn in der Illusion zu lassen, dass du ihm helfen kannst.«
    Federleicht fühlt er sich. Jegliche Müdigkeit ist von ihm abgefallen. Während er sich von seiner fernen Kollegin verabschiedet, schenkt er sich einen Whisky ein. Er dankt ihr ein letztes Mal, dann bricht er in Tränen aus.

22
    »Eine echte Herausforderung«, sagt Suzan zum anästhesietechnischen Assistenten Sjoerd. »Du bist ein Glückspilz. Wir arbeiten mit doppelter Besetzung plus Kardiotechnikern und dann zwei Gefäßchirurgen und einem Thoraxchirurgen. Allein schon die Positionierung und Punktierung der Zugänge nimmt mindestens eine Stunde in Anspruch. Schön, dass du dabei bist!«
    Auf dem Programm

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