Die Betäubung: Roman (German Edition)
gut.
»Empfindest du irgendetwas dabei?«, fragt er Suzan auf der Rückfahrt. »Müsste man doch eigentlich. Unser Vater ist tot, jetzt sind wir Waisen. Ich empfinde nichts. Ein bisschen Erleichterung, dass es vorbei ist. Ärger über die ganze Organisiererei. Keine Trauer, kein Bedauern. Du?«
»Ich frage mich, was für ein Leben er hatte«, sagt Suzan nachdenklich. »In den letzten Jahren war er natürlich jenseits von allem, da lebte er in einer Wahnwelt, oder wie man es nennen soll. Aber davor? Ich kann mich nicht erinnern, dass es je so etwas wie Freude gegeben hat, dass er froh war über uns. Das Leben war ein Auftrag, eine Aufgabe, die er zu erledigen hatte. Nach dem Unglück konnte er nichts mehr genießen, glaube ich. Oder Gefühle für jemanden hegen. Für uns zum Beispiel. Ein abgestumpftes Leben.«
Drik schaut verdutzt zur Seite. Suzan sagt das, als akzeptiere sie es, als sei sie gar nicht nachtragend. Er selbst schäumt vor Wut und Vorwürfen, als er sich klarmacht, was sie eigentlich meint. Doch das ist ein isoliertes Aufflackern, das gleich wieder abebbt und ihn in wattiger Leere zurücklässt.
Einige Tage später kommen sie im Andachtsraum des kleinen Friedhofs zusammen. Roos ist mit ihren Eltern mitgefahren, Drik hat Leida chauffiert. Sie hat stocksteif neben ihm gesessen, in schwarzem Kostüm, ihre große Tasche auf dem Schoß. Sie hat kein Wort gesagt.
Im Wald liegt Schnee. Auf der Straße und auf den Gehwegen ist daraus schmutziger Matsch geworden. Umsichtig lotst Drik Leida zum Eingang.
Sie sitzen zu fünft in der vordersten Reihe. Hinter ihnen nehmen einige Pflegerinnen Platz. Suzan dreht sich um und gibt der Frau die Hand, die ihr geholfen hat, Hendrik anzuziehen. Im letzten Moment kommen noch zwei Frauen mit Rollator herein. Ein Fahrer schiebt einen alten Mann im Rollstuhl nach vorn und setzt sich neben ihn.
Der Bestattungsunternehmer spricht einige Begrüßungsworte, Drik gibt einen verlogenen Abriss vom Leben seines Vaters und dankt dem Personal des Pflegeheims. Musik. In Hendriks Plattensammlung hat Drik eine Aufnahme der Mozart-Streichquartette mit dem Amadeus-Quartett gefunden. Er hat sich für den langsamen Teil des Dissonanzen-Quartetts entschieden. Die Anlage ist nicht richtig eingestellt, er gibt dem Bestattungsunternehmer durch Gesten zu verstehen, dass er den Lautstärkeregler aufdrehen soll. Dann strömt die Musik in den Raum und zeugt ohne Worte vom traurigen Leben des Hendrik de Jong. Drik merkt, dass er beinahe bekräftigend genickt hätte.
Leida nimmt ein Blatt Papier aus ihrer Tasche und erhebt sich. Am Mikrofon überlegt sie es sich anders und steckt den Zettel wieder weg.
»Ich wollte etwas sagen«, sagt sie, »aber es hat keinen Sinn. Mein Zwillingsbruder ist tot. Bis er hierherkam, habe ich für ihn gesorgt. Jetzt ist es vorbei.«
Sie setzt sich wieder neben Drik. Roos hat während des Streichquartetts geweint. Sie legt Blumen auf den Sarg. Nach Anleitung des Bestattungsunternehmers gehen die Anwesenden einmal um den Sarg herum und lassen den Toten dann zurück. Peter und Suzan nehmen Leida in ihre Mitte. Drik legt den Arm um Roos.
»Gleich wandert er in den Ofen«, sagt sie. »Ich finde das grauenhaft. Hannas Begräbnis, das war schön. Traurig, aber schön. Die Musik, die du ausgesucht hast, war klasse, sie hat mich zum Weinen gebracht.«
Drik drückt sie an sich. Sie stehen draußen im Matsch, und alle verabschieden sich mit Händeschütteln. Suzan unterhält sich mit der netten Krankenschwester. Sie vereinbaren wohl etwas wegen der Abholung von Hendriks Sachen und der Erledigung des Papierkrams, denkt Drik.
»Es geht jetzt besser mit meinem Freund«, sagt Roos. Drik erschrickt und wird sich bewusst, dass er tatsächlich eine ganze Stunde lang nicht an Allard gedacht hat.
»Ich tue, was du gesagt hast. Ich frage einfach alles, was ich von ihm wissen will. Du hast recht, nur so kann man jemanden wirklich kennenlernen. Ich werde auch kein Geheimnis mehr daraus machen. Demnächst nehme ich ihn mal mit nach Hause, dann können sie sehen, mit wem ich jetzt zusammen bin. Ich mach das einfach.«
In dem Restaurant mit Ausblick auf den verschneiten Wald lässt Drik den besten Weißwein von der Karte kommen. Roos, die ihm gegenübersitzt, tuschelt mit ihrer Mutter und erzählt ihr sicher allerlei Vertraulichkeiten über ihre Beziehung zu Allard. Er achtet auf Suzans Gesichtsausdruck. Sie sieht wie betäubt aus und zeigt keinerlei Reaktion.
Der Wein ist
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