Die Betäubung: Roman (German Edition)
für mich, mit Sport hab ich’s nicht so. In ein Orchester würde ich gern gehen.«
»Hast du deine Geige wieder ausgepackt?«
»Lieber würde ich bei den Bratschisten mitmachen. Ich habe voriges Jahr eine Bratsche geschenkt bekommen. Bratschisten dürfen immer mitspielen, weil sie Mangelware sind. Außerdem ist der Klang viel schöner, angenehm tief. Und mit der Bratsche sitzt du mittendrin, zwischen Cello und Geige eingepackt. Super.«
»Kannst du das so einfach? Brauchst du keinen Unterricht?«
»Ich habe ein paar Stunden von meinem alten Geigenlehrer bekommen. Der kann auch Bratsche spielen. Jetzt schau ich mal, vielleicht können mir die anderen in der Gruppe ja ein paar Tipps geben. Ich übe jeden Tag.«
Sie schaut sich in dem ausgeräumten Zimmer um und mustert das Gesicht ihres Onkels von der Seite.
»Weißt du, manchmal stehe ich mitten im Zimmer und streiche die Saiten, ohne sie zu greifen. Dann vibriert alles, und dann muss ich plötzlich heulen.«
Drik streichelt kurz ihre Hand.
»Nicht, dass ich allein bin oder so, das ist es nicht, ich habe jede Menge Freunde. Ich weiß nicht, was es ist. Es wird sich schon wieder geben.«
»Alles hat sich verändert«, sagt Drik. »Es ist nicht leicht, dass Hanna nicht mehr da ist, dass du nicht mehr bei Peter und Suzan wohnst. Dass ich mitten am Tag die Wände streiche und nicht meiner Arbeit nachgehe. Dass du nicht mehr in einer Klasse voller Mitschüler sitzt, die du schon sechs Jahre lang kennst.«
Roos wischt sich mit dem Handrücken über die Augen.
»All das zu können und Spaß daran zu haben – das ist nicht so einfach. Dafür musst du gut ausgeruht sein. Jetzt bist du auch noch traurig, das macht müde. Kannst du denn gut schlafen?«
»Nicht immer. Mama hat mir Tabletten gegeben, aber die nehme ich nicht. Liegst du auch manchmal nachts wach? Und stehst dann auf, weil du Angst davor hast, wieder einzuschlafen?«
»Ja, ich bin nachts hin und wieder wach. Dann zerbreche ich mir den Kopf darüber, wie es weitergehen soll. Sinnloses Gegrüble, das zu nichts führt. Ist vielleicht gar nicht so schlecht, dass du die Tabletten hast, für den Notfall, oder?«
Roos hat sich erhoben und nimmt das Tablett mit den Kaffeebechern vom Boden hoch. Sie dreht eine Pirouette und seufzt zufrieden. »Wie schön es hier ist! Wollen wir zusammen zu Hanna gehen, wenn wir fertig sind? Oder ist dir das unangenehm?«
»Nein. Das machen wir. Ich gehe gern mit dir dorthin. Ehrlich.«
Am späten Nachmittag spazieren sie über den Friedhof. Auf ihren Händen sind Farbspritzer. Drik spürt seine Muskeln, er ist es nicht gewohnt, den ganzen Tag auf einer Leiter zu stehen und mit den Händen über dem Kopf zu arbeiten. Roos scheint keine Beschwerden zu haben. Im Blumenladen hat sie einen Strauß ausgesucht, den sie jetzt vor dem Bauch trägt. Unter den Platanen gehen sie auf Hannas Grab zu.
»Es kommt ein Stein drauf«, sagt Drik. »Das dauert noch ein bisschen.« Er will gerade hinzufügen, dass sich das Grab noch setzen und einsinken wird, verkneift es sich aber, als er plötzlich das Bild einer ausgestreckten Frau vor Augen hat, die ergeben hinnehmen muss, dass auf ihrem Körper meterhoch Erde festgestampft wird. Auf dem kleinen Schild, das das Friedhofspersonal angebracht hat, sind Hannas Name und das Datum der Bestattung vermerkt. Auf dem Grab stehen Kübelpflanzen. Roos übergibt Drik den Blumenstrauß und holt am Brunnen Vase und Gießkanne. Sie spießt die Vase mit ihrem spitzen Fuß tief in den Boden, füllt sie mit Wasser und arrangiert die Blumen. Dann stehen sie nebeneinander da und starren auf die zwei Quadratmeter Erde, unter denen Hanna ist. Drik empfindet nichts, höchstens eine gewisse Sorge um seine Nichte. Roos hat die Arme um ihre Mitte geschlungen und weint. Sie lässt die Tränen einfach laufen, wie ein Kind, denkt Drik. Es hält lange an.
Nach zwei, drei Minuten reicht er ihr sein Taschentuch. Sie schnäuzt sich die Nase. Sie nicken beide kurz zum Grab hin, bevor sie sich abwenden und gehen. Absurd, denkt er, dieses magische Denken, tschüs, wir gehen jetzt, bis zum nächsten Mal. Schuldgefühle. Idiotisch.
Er liest die Texte auf den Grabsteinen entlang des Wegs: »Wer glaubt, geht nicht verloren«, »Siehe, ich mache alles neu«. Text ist nicht besonders dauerhaft, über die Zeit hinweg. Am schönsten findet er: »Alf Kok, Gitarre«, ohne Daten.
»Durch Hanna bin ich dazu gekommen, Geschichte zu studieren«, sagt Roos, die sich wieder gefasst hat.
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