Die Betäubung: Roman (German Edition)
»Sie wollte immer alles über die Dozenten wissen, und was ich lesen musste. Jetzt kann ich nichts mehr erzählen.«
Stille. Ihre Eltern wollen das doch bestimmt auch gern hören, denkt Drik. Oder fragen sie nicht, weil sie fürchten, Roos könnte sich dann kontrolliert fühlen? Wie macht man das, ein Kind loslassen? Wann? Roos redet weiter, sie spricht jetzt von Suzan, als hätte sie seine Gedanken erraten.
»Ich habe mich immer vor dem gegruselt, was sie macht. Ich weiß noch, wie ich sie einmal mit Papa zusammen abholen sollte. Wir mussten warten, denn in der Notaufnahme war plötzlich jemand eingeliefert worden, und da konnte sie nicht weg. Wir standen an der Tür, wo die Krankenwagen reinfahren. Du konntest direkt in den Raum sehen, in den sie den Patienten gebracht hatten. Der lag auf einem hohen Tisch, und Mama stand an seinem Kopfende. Sie hatte eine merkwürdige schwarze Schürze an, eine Art Bleikleid. Ihre Haare steckten unter einer Plastikhaube, und sie hatte einen Mundschutz vor dem Gesicht. Ich konnte nur ihre Augen sehen. Es waren ganz viele Leute da, die sich alle gegenseitig vor die Füße liefen. Sie fuhrwerkten mit Schläuchen und Geräten herum. Mama hat dann mit einem kleinen Messer einen Schnitt unter dem Schlüsselbein von dem Mann gemacht und da ein Kabel reingeschoben. Herzstillstand oder so, er sollte Elektroschocks bekommen. Jemand rollte einen Wagen heran und gab Mama diese Dinger, wie man die manchmal im Fernsehen sieht, zur Wiederbelebung, du weißt schon. Mama rief: »Los!«, und man sah, wie es den Mann durchzuckte. Sie haben ihm mit ’ner Art Gartenschere die Kleider runtergeschnitten. Papa und ich standen nur da und guckten. Eigentlich wollten wir ja zu dritt ins Kino gehen. Sie machte mir richtig Angst. Als sie später rauskam und ihre eigenen Sachen anhatte, war wieder alles normal. Aber ich kann das nicht vergessen. Als ob sie zwei Personen wäre, sie ist meine Mutter, aber sie ist auch jemand, der andere bewusstlos spritzt und ihnen gruselige Nadeln in den Körper sticht. Sie weiß, wie man jemanden töten kann. Das ist doch nicht normal. Wer kann so etwas gut finden? Da muss man doch gestört sein!«
»Hast du sie denn schon mal gefragt, warum ihr dieser Beruf so gut gefällt?«
»Nein.« Roos lacht schnaubend und schlurft hörbar durch den Kies. Sie blickt zu Boden.
»Empfindest du das, was Peter macht, auch als so abartig?«
»Das ist anders. Das kann ich besser verstehen. ›Die Leute kommen, weil sie verwirrt sind‹, hat er mal gesagt, als ich klein war. Und da habe ich mir gedacht: Er entwirrt sie wieder. Ich hab manchmal heimlich aus dem Fenster geschaut, wenn jemand kam, ob ich dem was ansehen konnte. Aber da war nichts zu erkennen. Alles ganz normale Menschen. Sie blieben eine Stunde drinnen, und dann durfte ich nicht auf dem Flur Fußball spielen. Meistens war ich sowieso in der Schule und bekam gar nichts davon mit. Ich hab Papa, wenn er mir gute Nacht sagen kam, manchmal gefragt: ›Was hat denn der Mann gesagt, der so verwirrt war, worüber hast du mit ihm geredet?‹ – ›Das darf ich nicht sagen, das ist geheim‹, sagte er dann. ›Und wenn ich es sagen würde, wäre es kein Geheimnis mehr.‹ Eure Arbeit ist nicht so gruselig, so eklig. Vor kurzem wurde Mama mal von jemandem aus dem Krankenhaus angerufen. Sie ging mit dem Telefon auf den Flur raus, aber ich habe gelauscht. ›Die Nadel muss raus‹, habe ich sie sagen hören, ›die darf nicht länger als vierundzwanzig Stunden im Knochen bleiben. Hast du jetzt einen guten Zugang? Dann schraub das Ding gleich raus.‹ Eine Nadel im Knochen! Mir wird übel, wenn ich nur dran denke. Ich hab sie anschließend gefragt, wozu denn so eine Nadel im Knochen gut ist. ›Oh, die ist sehr praktisch‹, hat sie geantwortet. ›Wenn man auf die Schnelle keine Vene findet, sticht man einfach eine Stahlkanüle in ein breiteres Knochenstück. Die Knochenmarkhöhle ist gut durchblutet, da hat man den Zugang, den man braucht. Aber immer im rechten Winkel zum Knochen, sonst könnte man etwas Wichtiges beschädigen.‹«
»Die Wachstumsfuge«, murmelt Drik.
»Kann sein. ›Tut das denn nicht weh?‹, hab ich gefragt. Sie meinte, schon, aber der Zugang sei wichtiger als die Schmerzen. Ihre Hauptbeschäftigung besteht darin, irgendwo reinzukommen. Wenn sie einen neuen Patienten vor sich hat, guckt sie sich als Erstes seine Adern und seinen Rachen an. Zugang!«
Roos beschleunigt ihre Schritte. Sie kommen an Grabmälern
Weitere Kostenlose Bücher