Die Betäubung: Roman (German Edition)
vorgemacht.«
Er erzählt mir etwas, denkt Drik. Er hat eine angenehme Stimme, der hört man gerne zu. Was ist die Botschaft? Dass er, genau wie sein gefährlicher Patient, in destruktive Wut ausbrechen wird, wenn ich ihm zu nahe trete? Dass ich mit ihm über praktische Dinge reden soll und nicht über abstrakte Konflikte? Er lässt sich von einer freundlichen Frau helfen, aber nicht von mir. Er traut sich nicht, sich umzuschauen, hält mich aber mit seinem stechenden Blick gefangen. Er vertraut mir nicht.
Ich muss ihn mit seinen wahren Gefühlen in Kontakt bringen. Sagt Peter immer. Das ist unsere Aufgabe. Wenn man erkennt, was wirklich in einem vorgeht, fühlt man sich besser, so unangenehm die Empfindungen auch sein mögen. Ist es wirklich so? Würde es ihm selbst bessergehen, wenn er die Verzweiflung zuließe, die er hinter seinem Alltagsgehabe vermutet? Drik weiß es eigentlich nicht mehr.
»Du bist froh über die Hilfe deiner Kollegin.«
Allard nickt. »Man hört oft anderes«, sagt er. »Dass der Betreuer dich einfach deinem Schicksal überlässt oder ständig was an dir auszusetzen hat. Da bin ich schon dankbar, dass ich sie zugewiesen bekommen habe.«
»Irgendeine Ahnung, warum du diese konkrete Hilfe so sehr benötigst?«
Der Junge sieht ihn erschrocken an. »Ist das nicht gut? Ich bin in der Weiterbildung, ich muss auf die hören, die mich ausbilden. Die haben es nicht so gern, wenn man gleich eigene Wege geht, dafür bekommt man keinen Beifall. Meinen Sie, dass ich zu unterwürfig bin? Ich habe dort gerade erst angefangen, alles ist neu für mich. Ich möchte lernen.«
»Du scheinst meine Frage als Kritik aufzufassen.«
»Ist doch auch so! Sie lassen durchklingen, dass ich ein Dussel bin, der sich an die Hand nehmen lässt. Das ist ganz und gar nicht so. Ich weiß sehr wohl, was ich tue.« Allards Stimme klingt ungemein scharf.
Drik lässt eine kurze Stille eintreten. Dann sagt er: »Ist es denn abwegig, wenn du dich in einer derart neuen und wohl auch beängstigenden Situation gern von einer erfahrenen Kollegin anleiten lässt?«
Ich muss die Angst erreichen, denkt er. Dieser Junge sitzt in seinem Sessel wie ein vor Schreck erstarrtes Kaninchen, weiß nicht mehr ein noch aus und empfindet alles, was ich sage, als persönlichen Angriff. Vielleicht hatte er ja letzte Woche so große Angst, dass er das ganze Zimmer hier nicht gesehen hat, den alten Plunder, die vergilbten Farben. Er hat nur mich angesehen, darauf geachtet, ob ich ihn angreifen, herabsetzen, vernichten würde. Er wird stinkwütend auf mich sein. Das ist zu viel und zu heftig, um es jetzt zu besprechen. Er ist zum zweiten Mal hier, von Arbeitsbündnis kann noch kaum die Rede sein – eine derart massive Übertragung kann ich jetzt nicht zur Sprache bringen, dann verjage ich ihn garantiert. Ruhe. Sicherheit. Darum geht es jetzt.
»Ich habe über das, was Sie voriges Mal gesagt haben, nachgedacht«, sagt Allard leise. »Ob mir mein Vater fehlt. Wie sich das auswirkt.«
Dass junge Patienten ihn siezen, während er sie automatisch duzt, ist Drik gewohnt. Trotzdem stört es ihn jetzt, vermittelt es ihm das Gefühl, dass Allard ihn auf einen Sockel stellt. Schämt sich der Junge für seinen Ausbruch, versucht er diesen auszubügeln, indem er ihm nach dem Mund redet? Drik wird bewusst, dass er gar kein gutes Gefühl bei der Arbeit hat, im Gegenteil, ihm ist nicht wohl in seiner Haut, er ist verunsichert. Klar bin ich das, denkt er. Zum ersten Mal seit Hannas Tod wieder aktiv, in einer völlig veränderten Umgebung. Oder rührt das Unbehagen woanders her, wird es ihm von seinem Gesprächspartner zugeschoben, weil der es nicht ertragen kann? Plötzlich tut ihm der Junge leid – wie schade, dass man sich in einer Situation, die im Grunde eine Hilfe darstellen soll, so unsicher und ungeborgen fühlt.
»Und, was hast du gedacht?«
»Alternative Väter«, sagt Allard. »Ich habe immer Ersatzväter gesucht und sie manchmal auch gefunden. Ein Chemielehrer auf der weiterführenden Schule. Der Hockeytrainer. Der Chirurgieprofessor während des Studiums. Und jetzt der Mann, der die psychiatrische Weiterbildung leitet. Ich träume von diesem Mann, phantasiere davon, dass er mich auserwählt, einen wichtigen Vortrag zu halten. Dass er mich als seinen zukünftigen Nachfolger vorstellt. Lächerlich. Aber es ist so. Ich orientiere mich an diesem Mann und möchte so werden, wie er mich haben möchte. Ich habe auch große Angst, dass mir das nicht
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