Die Betäubung: Roman (German Edition)
eigentlich nicht auf dich nehmen kannst. Richtig unheimlich ist das.«
Der Ober räumt die Teller ab. Sie haben jetzt Platz, die Arme auf den Tisch zu legen. Sie bestellen Kaffee.
»Ich empfinde es nicht so, wie du es gerade gesagt hast«, sagt Suzan. »Es ist zwar so, da hast du recht, aber ich erlebe es nicht auf diese Weise. Ich betrachte das Ganze in Scheibchen, in einzelnen Aufgaben, die ich zu erledigen habe. Ich gehe vom einen zum nächsten. Ich plane das sehr gut, sorge immer dafür, dass ein kleinerer Tubus bereitliegt, dass ein Tracheotomie-Set da ist, ich weiß, wie gut der jeweilige Anästhesiepfleger ist, ich kenne den Chirurgen. Ich denke nicht: Jetzt übernehme ich die Atmung, jetzt hängt das Leben des Patienten von mir ab. Ich schaue in seinen Rachen, ich sehe das schwarze Dreieck zwischen den Stimmbändern, und dort hinein schiebe ich den Tubus. Ich horche auf die Lunge. Ich achte auf das Kapnogramm. Alles kleine Aufgaben. Wenn ich die sorgfältig erledige, bin ich zufrieden. In Notfällen läuft es genauso ab, nur schneller. Nein, es ist nicht schwer. Es ist toll. Es ist genau das, was ich immer gewollt habe.«
5
Am Tag nach dem ersten Gespräch mit Allard stellt Drik seine Sprechzimmersessel vors Haus. Er rollt den Teppich zusammen und legt ihn zu den Sesseln hinaus. Das Bücherregal räumt er aus, verstaut die gesamte analytische Weisheit in Umzugskartons, nimmt die Vorhänge herunter. Nun stehen die Kartons und die Analysecouch mitten im Zimmer unter Plastikplanen. Drik hat eine Leiter aufgestellt und tüncht die Wände weiß.
In der Küche ist Roos dabei, Kaffee zu kochen. Der Duft vermischt sich mit dem Kalkgeruch der Wandfarbe. Die Anwesenheit seiner Nichte vermittelt Drik ein beschwingtes Gefühl. Als Roos gestern Abend bei ihren Eltern vorbeischaute, kamen sie irgendwann auf die abgenutzte Ausstattung seines Arbeitszimmers zu sprechen. Roos sprang sofort darauf an, erklärte sich bereit, neue Vorhänge für ihn zu bestellen, meinte, dass ein anderer Teppich, ein besseres Bücherregal, neue Sitzmöbel hermüssten. Heute Morgen sind sie zusammen in ein Möbelgeschäft gefahren, um alles auszusuchen. Schnell zuschlagen hat Drik gedacht, solange du Wind unter den Flügeln hast, wenn du erst gelandet bist, schwingst du dich nicht so bald wieder auf. Roos hat auf einen Sessel gezeigt, er solle sich mal hineinsetzen und sagen, wie es sich anfühle. Einmütig, fröhlich haben sie einen Teppich ausgewählt, ein Bücherregal aus Naturholz. Die hellen Vorhänge werden nach Maß gefertigt, inklusive Haken zum Aufhängen; übermorgen wird das Ganze geliefert.
»Und wir streichen inzwischen, Onkel Drik, ich helfe dir. Ich hatte vorige Woche Zwischenprüfung, da darf ich jetzt ruhig mal ein paar Tage nichts tun.«
Also sind sie auch im Baumarkt gewesen. Drik hat Roos amüsiert bei der Auswahl der Utensilien zugeschaut: Farbeimer, Pinsel, Abdeckfolie, Gummihandschuhe. Genau wie Suzan, hat er gedacht. Sie wird es nicht hören wollen, aber in diesen praktischen Dingen ist sie ganz ihre Mutter.
Roos kommt mit dem Kaffee herein, und Drik steigt von der Leiter. Sie setzen sich neben dem Plastikhügel auf den Fußboden.
»Jetzt geht es noch«, sagt Drik. »Ich bekomme lauter neue Patienten, die es hier nicht anders kennen werden als so picobello. Wenn meine Praxis voll wäre, würden solche Veränderungen ein Riesengezeter auslösen. Die Leute mögen das nicht. Alles soll so bleiben, wie es ist. Man bekommt dann höchstens Kommentare zu hören wie: Geschmacksverirrung, Plunder, Kitsch und was nicht noch alles.«
Roos lacht. »Findest du das schlimm?«
»Na ja, man kann natürlich alles Mögliche besprechen, das muss für die Therapie gar nicht von Nachteil sein. Aber mir ist es lieber, wenn sie es toll finden und meinen guten Geschmack loben – beziehungsweise deinen guten Geschmack. Oder? Aber das ist ja jetzt kein Problem, denn ich habe nur einen einzigen Klienten. Damit werde ich schon fertig.«
»Es ist gut, dass du es jetzt machst«, sagt Roos ernst. »Ein Neuanfang. Man muss sich in seinen eigenen vier Wänden wohlfühlen. Du bist jetzt allein. Da musst du gut für dich sorgen. Ich versuche das auch.«
»Höre ich da Peter sprechen?«
»Stimmt, Papa sagt das häufig. Und er hat recht. Aber ich fühle mich dabei oft so einsam. Meine Wohnung ist wirklich nicht übel, aber manchmal weiß ich nicht, was ich anfangen soll, wenn ich keine Vorlesungen habe. Einem Sportverein beizutreten ist nichts
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