Die Betäubung: Roman (German Edition)
vorüber, die die Größe von Gartenlauben haben und mit Engelsskulpturen und stilisierten zerbrochenen Säulen ausgeschmückt sind. Drik verspürt das Bedürfnis, etwas Nettes über seine Schwester zu sagen und die Anästhesie zu verteidigen, aber er hält den Mund. Er hat sich mal durch ein ungeschicktes Manöver beim Schlittschuhlaufen das Schienbein gebrochen. Als der Anästhesist mit langen Nadeln anrückte, die er ihm zur lokalen Betäubung sowohl in die Leiste als auch in die Wirbelsäule stechen wollte – »kurz eine Blockade setzen« –, bat er feige um Bewusstlosigkeit. Die Vorstellung, dass jemand mit einer Nadel zwischen seinen Wirbeln herumtasten, schützende Bänder durchstechen und das betäubende Gift in den Raum spritzen würde, in dem seine Nerven lagen, versetzte ihn in Panik.
Zu beiden Seiten des Weges stehen jetzt, in einen niedrigen Erdwall gebettet, kleine quadratische Steine mit Namen darauf. Asche in Urnen, denkt er. Man hat einen Ort zum Gedenken an einen Menschen, aber dessen Körper ist streubar geworden. Praktisch in einem Behälter zu verstauen, der in eine Tragetasche passen würde. Der Körper ist etwas Grässliches. Was daran nicht alles defekt werden kann – und wohin damit, wenn kein Leben mehr darin ist? Was soll er mit der Erinnerung an Hannas vom Leiden gezeichnetes Gesicht, warum schiebt sich das Bild von ihrem kranken Leib, dem geblähten Bauch, den spindeldürren Beinen vor seine Erinnerung an ihren einst so makellosen Körper?
»Komm, wir trinken jetzt einen Kaffee. Dann kannst du mir von deiner Prüfung erzählen. Gehen wir ins Café?«
Roos nickt.
Montag, elf Uhr. Das Sprechzimmer hat eine Metamorphose erfahren und sieht tipptopp aus. Driks Bücher – staubfrei nun, da Roos sie Stück für Stück ausgeklopft hat –, stehen in dem neuen Regal, das zwei Wände über Eck einnimmt. Die Stapel angeschmuddelter Artikel sind fest hinter Schiebetüren verstaut. Was dunkel war, ist hell. Drik reibt sich mit zufriedenem Lächeln die Hände.
Pünktlich auf die Minute klingelt es. Drik lässt den Jungen vorangehen und folgt ihm durch den geraden Flur ins Sprechzimmer. Der Name ist Allard, denkt er. Allard hat keinen Mantel an, wohl aber einen dicken Schal um den Hals. Drik schließt die Flügeltür und nimmt in seinem neuen Sessel Platz, dem Jungen schräg gegenüber. Der hat seinen Schal abgenommen und legt ihn ans Fußende der ungenutzten Analysecouch, die einen neuen Bezug erhalten hat, hell, makellos.
Allard sieht ihn an. Drik nickt, als heiße er ihn ein zweites Mal willkommen, sagt aber nichts. Stille. Der junge Mann gräbt in den Taschen seines Jacketts und wirft Handy und Terminkalender zu dem Schal, als wären es tote Ratten, die er einer Würgeschlange hinwirft.
»Und, wie ist es dir seit letzter Woche ergangen?«, fragt Drik. »Hast du noch über unser Gespräch nachgedacht?«
Dumm, dumm, dumm, denkt er. Zwei Fragen auf einmal, drei eigentlich. Die erste hätte ausgereicht. Er lässt mich nicht los mit seinen Augen, schwierig, mich dabei auf meine Gedanken zu konzentrieren. Warum schaut er sich nicht um, warum bemerkt er nicht, dass das Zimmer völlig verändert aussieht? Er muss das doch registrieren, irgendwie, aber offenbar nimmt ihn etwas anderes so sehr in Beschlag, dass die Wahrnehmung nicht bewusst werden kann. Oder macht er das extra? Spürt er, dass ich stolz auf die neue Einrichtung bin, dass ich einen Kommentar und Komplimente erwarte, die er mir vorenthält, um mich zu ärgern? Er blinzelt fast gar nicht. Angst. Trotzdem kommt mir der Gedanke, dass er mich ärgern will. Nichts sagen jetzt, abwarten, bis ich eine Ahnung bekomme, worum es geht.
Allard erzählt. Er habe eigentlich eine gute Woche gehabt. Die Psychiaterin, die ihn bei seiner Arbeit betreue, habe ihm geholfen, besser hineinzufinden.
»Keine komplizierten, abgehobenen Sachen, sondern ganz praktisch. Wie man das Zimmer eines möglicherweise gefährlichen Patienten betritt. Dass man in der Nähe der Tür bleiben und einer Pflegekraft Bescheid geben sollte, die abrufbereit im Flur steht. Dass man eine kleine, konkrete Bitte an den Patienten richten sollte – würden Sie bitte das Radio leiser stellen, könnten Sie mir bitte die Taschentücher reichen –, so etwas. Dann ist ein Kontakt hergestellt. Man sollte Abstand wahren und den Patienten nicht einschüchtern, aber die Zügel in der Hand behalten. Und man darf nicht zu viel erwarten. Um solche Sachen ging es. Sie hat mir auch manches
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