Die Betäubung: Roman (German Edition)
schon vorbei?«, fragt sie verwundert.
Zeitgefühl, denkt Suzan, darüber sollte mal jemand einen Artikel schreiben. Wenn man schläft, und sei es noch so tief oder betrunken, hat man immer eine Ahnung davon, dass Zeit vergeht. Bei manchen ist das Zeitgefühl so präzise, dass sie keinen Wecker brauchen, bei anderen ist es vager, aber vorhanden ist es immer. Irgendwie bleibt man im Schlaf mit der Welt in Kontakt, auch wenn man sich dessen vorübergehend nicht bewusst ist. Man kann die Dimension von Raum und Zeit nie ganz loslassen.
Beim künstlichen Schlaf ist das anders. Patienten erwachen aus der Narkose und haben keine Ahnung, dass fünf Stunden vergangen sind, sie glauben es nicht, sie müssen sich neu auf die Uhrzeit einstellen. Ihnen fehlt etwas.
Das stiftet fast immer Verwirrung. Die einen nehmen es hin und vertrauen den Pflegekräften, die sie auf der Station versorgen, so wie sich ein Kind dem Tagesrhythmus unterwirft, den die Eltern vorgeben. Andere macht es wütend, dass sie die Kontrolle über die Zeit verloren haben. Sie fühlen sich in ihrer Autonomie verletzt, die Ärzte haben ihnen ihre Stunden geraubt. Wo sind sie? Verflogen, restlos.
Die Frau mit dem Knie ist jetzt voll da. Carla und Suzan schieben ihr eine Rollmatte unter den Rücken und ziehen sie auf das bereitstehende Bett. Nun geht es in den Aufwachraum. Dort ist es noch ruhig, der Platz am Fenster ist frei. Oberpfleger Ron, ein freundlicher Surinamer, stellt sich der Patientin vor. Er zieht die Vorhänge um das Bett zu, und Suzan macht die Übergabe: Die Flüssigkeitszufuhr läuft noch kurz durch, wenn nötig, dürfen weitere Schmerzmittel verabreicht werden.
Sie lassen die Frau allein und gehen zur Theke des OP-Koordinators. Suzan füllt ein Formular für die Patientenakte aus. Carla langt hinter einen Computerbildschirm, wo ein kleiner Eimer voll Naschzeug steht. Ron lacht. »Zuckerspiegel anheben, das ist gut.«
»Und Sie müssen was trinken«, sagt er zu Suzan, »man dehydriert hier schnell.«
Er füllt ein Glas mit Limonade, giftige Farbe, viel zu süß. Suzan trinkt, weil sie den Mann so nett findet. Eine Oase ist das hier, denkt sie, eine Oase der Ruhe, bevor sich dieser Raum mit Patienten füllt, die lange, komplizierte Operationen hinter sich haben und an Schläuchen und Monitoren hängen. Dann wird es hier hoch hergehen, ein Konzert aus Pieps- und Klingeltönen, rennende Schwestern, Ärzte, die um ein Bett bitten, Techniker, die ein Gerät justieren, Assistenzärzte, die einen Griff in den Nascheimer tun wollen, bevor ihre nächste Operation beginnt. Jetzt aber noch Ruhe.
Hastig radelt Suzan zu dem Restaurant, in dem sie sich mit Simone verabredet hat. Zu dieser Zeit des Jahres scheint es gar kein Tageslicht zu geben, sie ist nur noch in der Dunkelheit unterwegs. Vorsichtig quert sie die Straßenbahnschienen. Je öfter man in der Notaufnahme gearbeitet hat, desto umsichtiger wird man im Straßenverkehr.
Simone ist schon da. Ein Glas Wein vor sich und eine Fachzeitschrift auf dem Schoß, sitzt sie schräg neben dem Bassin mit den Hummern, deren Scheren mit dickem Gummiband zusammengebunden sind. Ihr Blick ist leer, hellt sich aber auf, als er Suzan einfängt.
Mantel aus, Schal, Handschuhe. Suzan hört das Klimpern von Gläsern und Besteck und denkt: Wieso mache ich das, wieso treffe ich mich nicht mit Roos, meiner widerspenstigen Tochter? Das muss anders werden. Wenn ich arbeite, tue ich gerade so, als hätte ich keine Tochter, das geht nicht mehr so weiter. Später eine SMS schicken.
Seufzend lässt sie sich ihrer Freundin gegenüber nieder. Weißwein. Sie bestellen, was sie hier immer bestellen, Austern, Fisch. Keine Verpflichtungen jetzt. Morgen weitersehen.
Simone erzählt von ihrer Forschungsarbeit. Es geht um die Bekämpfung chronischer Schmerzen, den ganzen Tag hat sie Daten eingegeben, sie arbeitet mit einigen peripheren Krankenhäusern zusammen, und es verlangt ihr einiges ab, die Kollegen dazu zu bewegen, ihre Daten in der gleichen Form zu übermitteln, sie versteht das nicht, daran sollten doch alle mitarbeiten, es geht doch um die wissenschaftliche Untermauerung ihres Fachs.
»Na ja«, sagt Suzan, »was ist denn das eigentlich, unser Fach? Kann doch für jeden was anderes bedeuten, oder?«
»Du meinst: Umsatz machen und Segelyacht kaufen? Ich habe nie an das Geld gedacht, früher. Mich hat die Biochemie fasziniert, die Physiologie. Ich wäre auch gerne Neurologin geworden. Etwas von der Reizübertragung, dem
Weitere Kostenlose Bücher