Die Betäubung: Roman (German Edition)
gelingt. Das hat natürlich etwas mit meinem Vater zu tun. Ich werde wohl als Kind gedacht haben, dass er abgehauen ist, weil ich nicht gut genug war.«
Viel zu glatt, denkt Drik. Er versucht, sich mit der Übernahme einer Deutung, die ich ihm vorige Woche angeboten habe, bei mir einzuschmeicheln. Wenn er so redet, empfinde ich nichts, keine Empathie, kein Mitleid. Höchstens eine leichte Verärgerung. Das ist demonstrativer Gehorsam, aber dahinter steckt etwas ganz anderes. Er umgeht den aufrichtigen Kontakt. Was soll ich damit? Die Zeit ist auch fast um, ich kann nichts mehr anschneiden. Er darf nicht verwirrt gehen. Das Arbeitsbündnis ist oberstes Gebot.
»Wenn das so ist«, sagt Drik, »dann werden wir dem im Laufe der Lehrtherapie schon auf die Spur kommen. Machen wir nächste Woche weiter?«
6
An diesem Morgen ist irgendwie alles komisch, verschoben, merklich anders. Suzan steht in einem der Operationssäle für sogenannte »kleine« Eingriffe, mit einem jungen HNO-Arzt als Operateur. Als sie die kleine Patientin geholt hat, eine Zehnjährige mit Minderwuchs, die eher wie eine Fünfjährige aussieht, saß der Arzt schon auf der Bettkante der Kleinen und plauderte mit ihr und ihrer Mutter. Er hat das Mädchen bereits mehrfach operiert, die Lunge ist in einem erbärmlichen Zustand, und die Schleimhäute sind permanent angegriffen. Das Kind atmet schnell und flach, die oberen Atemwege sind durch Verkrustungen und Ablagerungen teilweise blockiert. All das Zeug soll heute rausgeholt werden.
»Ha, Suzan! Fein, dass du da bist!« Der Arzt, mit ausladender rosafarbener Duschhaube auf dem Kopf, hat sie durch seine großen Brillengläser erfreut angesehen. Das Kind, in einem viel zu groß ausgefallenen, mit Elefanten bedruckten Schlafanzug, blätterte in einem Buch.
Suzan hat das Mädchen und die Mutter begrüßt und etwas zum weiteren Ablauf gesagt. Der ist vertraut, das Kind hat alles schon einmal mitgemacht. Sie haben die Mutter im Zimmer zurückgelassen und das Bett in den OP gefahren.
Sowie das Mädchen auf dem Tisch lag, war Suzan ganz konzentriert. Sie hat leise auf ihre kleine Patientin eingeredet: »Jetzt setze ich dir die Maske aufs Gesicht. Ganz tief atmen, so tief du kannst. Gut so.«
Reiner Sauerstoff, dann Sevofluran, dann Bewusstlosigkeit. Sie hat rasch den Zugang gelegt, dann intubiert. Das Kind hat nicht geweint und schien keine Angst zu haben. Suzan ist zufrieden. Sie überprüft Schläuche und Anschlüsse und wirft einen Blick auf den Monitor. Sieht gut aus.
»Ruud, ich bin fertig.«
»Einen Moment, wir wollen das Ganze noch einmal kurz durchsprechen«, sagt der gutgelaunte Operateur. Er winkt der Anästhesieschwester und ruft auch den OP-Pfleger, ja sogar den Springer hinzu. Sie stehen alle zusammen um das schlafende Kind herum.
»Ich werde so viel wie möglich von dem ganzen Mist herausholen. Durch die Nase. Die Narkose hat gut funktioniert?«
»Die Sauerstoffsättigung ist am unteren Limit, aber das war nicht anders zu erwarten«, sagt Suzan. »Was schätzt du, wie lange es dauern wird?«
»Halbe Stunde. Höchstens. Hat noch jemand Fragen?«
Der Springer möchte wissen, ob die Krusten zur Analyse ins Labor sollen. Der Operateur verneint, es sei denn, dass etwas Eigenartiges zutage gefördert wird.
»Wir fangen an«, verkündet Ruud. Er beugt sich über den Kopf der Kleinen. Das ist es, denkt Suzan, der Patient liegt andersherum. Ich müsste am Kopf sitzen. Irgendwie bin ich jetzt stärker mit einbezogen, bin mehr als sonst Teil des Teams, weil ich nicht hinter einer grünen Tuchwand sitze.
Der Arzt gräbt in dem weit aufgesperrten Nasenloch und holt grünliche Klümpchen und Krusten heraus, die er immer kurz hochhält, um sie den anderen zu zeigen. Er streift das Zeug an der bereitgelegten Gaze ab und gräbt weiter.
»Unglaublich, welche Mengen«, stöhnt er, »und da soll man noch atmen können! Wir hatten ernsthaft erwogen, eine Lungentransplantation vorzunehmen. Aber das würde die Schleimhautproblematik leider nicht lösen. Binnen kürzester Zeit hätten wir wieder die gleiche Situation. Hoffnungslos. Und es ist so ein aufgewecktes Kind.«
Muss er das denn jetzt laut sagen, denkt Suzan. Der Blutdruck steigt an, und sie spritzt noch etwas Schmerzmittel nach. Es ist bekannt, dass Patienten manchmal unerklärlicherweise Erinnerungen an Vorfälle während der Operation haben. Sie erinnern sich daran, dass man ihre Lage auf dem OP-Tisch verändert hat, rekapitulieren einzelne
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