Die Betäubung: Roman (German Edition)
Wörter, ja manchmal sogar vollständige Sätze, die gesagt wurden. Sie schliefen, sie waren nicht bei Bewusstsein, aber unter der Decke der Betäubung haben sie offenbar doch vorhandene Reize registriert, die ihnen dann später einfallen. Unheimlich. Wir sollten also auf unsere Stimme achten, keine Panik durchklingen lassen. Wir sollten nichts über das Aussehen des Schlafenden sagen, sein Übergewicht etwa. Nichts über seine Prognose oder den Zustand, in dem man Bauch- oder Brustraum vorfindet. Wir sollten nicht von Urlaubsplänen reden. Nicht schimpfen, nicht fluchen. Vielleicht auch nicht lachen. Aber das ist jetzt nicht schlimm, sagt sie sich. Wir haben alle Mitleid mit dem Mädchen und versorgen es so gut wie möglich. Die Verfassung von Lunge und Schleimhäuten ist Tatsache. Er spricht mit Empathie. Es ist gut.
Weil alle so achtsam sind, wird kaum etwas gefragt. Der OP-Pfleger reicht Ruud schon die Zange, bevor er überhaupt aufgeschaut hat. Als die kleine Patientin unruhig zu werden scheint, hat die Anästhesieschwester schon das richtige Mittel für Suzan parat. Ruud lächelt ihr zu.
»Wir sind ein prima Team heute Morgen. Musst du nicht in den anderen OP?«
»Nein, ich bleibe hier. Ich habe Tjalling gebeten, mich dort zu vertreten. Macht er gern. Er liebt die Arbeit.«
Vorsichtig zieht Ruud seine Instrumente aus der Nase des Mädchens. Suzan wartet darauf, dass die Kleine wach wird. Sie legen sie auf die Seite. Ihre Augenlider beginnen zu zittern, der schmale Brustkorb weitet sich unter einem Hustenreiz. »Aufwachen, Süße, wir sind fertig!« In einer fließenden Bewegung zieht Suzan den Tubus heraus, genau in die richtige Richtung, so dass es möglichst wenig irritiert.
»Jetzt kommst du wieder in dein Bett zurück. Wir bringen dich zu Mama.«
Das Mädchen nickt mit schwachem Lächeln. Ruud streicht ihm über den Kopf. »Ich schau später noch mal nach dir, versprochen«, sagt er.
Suzan schiebt das Bett aus dem OP. Der Infusionsständer mit dem Beutel für die Flüssigkeitszufuhr steht wie ein Flaggenmast auf dem schmalen Schiff, mit dem sie durch die Flure in den Hafen des Aufwachraums fahren.
Am Ende des Nachmittags versammeln sich die Anästhesisten im Konferenzraum. Das ist ein Usus, den Professor Norbert Vereycken, der neue Lehrstuhlinhaber, gleich nach seinem Antritt vor zwei Jahren eingeführt hat. Bei dieser Versammlung soll alles angesprochen werden, was Anlass zur Besorgnis gibt; keine medizinischen Schnitzer und Debakel, dafür gibt es ein anderes Forum, sondern Dinge, die für Verärgerung sorgen oder Fragen aufwerfen. Anfangs gab es einen festen Themenplan, bei dem das neue Weiterbildungsmodell im Vordergrund stand: Anpassungen in der Lehre, die Einrichtung eines Mentorensystems, das die Betreuung der Berufsanfänger durch fortgeschrittenere Assistenten vorsieht, die Neugestaltung der Supervision dahingehend, dass der Assistent während der Weiterbildung keinen festen Supervisor mehr hat, sondern täglich unter der Obhut eines anderen Anästhesisten steht.
Nachdem die Neuerungen durchgesetzt waren, hatte sich Vereycken mehr und mehr zurückgenommen und die Ärzte selbst Themen vorschlagen lassen. Zur Strukturierung des Ganzen regte er an, die Sitzung jeweils von ein oder zwei Beteiligten leiten zu lassen. Er hatte eigentlich vor, die Besprechungen nach einer gewissen Zeit einzustellen – es gibt schon genügend Sitzungen, und die Arbeitstage sind lang –, doch daraus scheint nichts zu werden. Man kommt gern, begrüßt die Gelegenheit, Anregungen oder auch Klagen vorzutragen, und schätzt die kollegiale Atmosphäre, in der Anschuldigungen oder Anordnungen nichts zu suchen haben. Vereycken hat das akzeptiert und seine Sekretärin, die den zauberhaften Namen Livia Labouchere trägt, darum gebeten, für diese wöchentliche Anästhesiesitzung wirklich köstliches Gebäck besorgen zu lassen. Sie kauft es persönlich ein, beim belgischen Bäcker. Der Professor bezahlt.
Als Suzan den Raum betritt, sitzt Tjalling schon da, in blauer OP-Kluft, die langen Beine ausgestreckt. Suzan setzt sich neben ihn. »Vielen Dank noch mal«, sagt sie. »Nett, dass du für mich eingesprungen bist.«
»Schön gearbeitet? Lief es gut?«
»Nein, es lief nicht gut, aber schön gearbeitet habe ich. Das muss ich sagen.«
Eigentlich ist das heute ein einziges Unglücksprogramm gewesen, denkt sie. Zuerst dieser hoffnungslose Fall mit den dramatischen Schleimhäuten, so ein Kind, das man zugrunde gehen sieht,
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