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Die Betäubung: Roman (German Edition)

Die Betäubung: Roman (German Edition)

Titel: Die Betäubung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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Kollegin findet, es sei schwer zu ertragen, dass einem immer jemand über die Schulter schaut. »Man fühlt sich permanent dem Urteil anderer ausgesetzt.«
    »Das ist doch gerade ein Vorteil«, wendet ein anderer ein. »Du kannst um Hilfe bitten, du bekommst Unterstützung. Das empfinden wir hier zum Glück nicht als Schande.«
    Vereycken hört sich alles an. Dann ergreift er wieder das Wort.
    »Wir sollten uns, glaube ich, nicht vormachen, dass wir hier eine geschützte Enklave bilden, die sich der Statistik entzieht. Solange die Ursachen nicht besser bekannt sind, ist Wachsamkeit geboten. Ihr habt eine Reihe von Faktoren genannt – Spannungen, Stress, große Verantwortung, Unsicherheit –, die wir bei unseren Besprechungen hier sicher mit Gewinn näher unter die Lupe nehmen können. Und das werden wir auch tun. Aber da ist noch mehr. In dem Artikel wird eine erhöhte Neigung zu Suchterkrankungen angeführt. Ärzte, namentlich Anästhesisten, greifen zu Alkohol oder Medikamenten. Ich will euch damit nichts unterstellen, sondern ich sage das, weil ich ganz kollegial mit euch darüber sprechen möchte. Und noch etwas kommt bei uns häufiger vor als bei vergleichbar stressigen Berufen, bei der Feuerwehr oder der Polizei: Depressionen.«
    Suzan erschrickt. Das Wort gehört in die Welt von Peter und Drik. Wir hier auf der Abteilung sind nicht schwermütig, wir haben Pläne, wir sind aktiv.
    »Das eine kann mit dem anderen zusammenhängen«, sagt Vereycken, »es ist denkbar, dass ein schwermütiger Mensch zu Alkohol oder Opiaten greift. Oder dass sich ein Suchtkranker eher schwermütig fühlt. Das ist nicht mein Fachgebiet, aber durch diesen Artikel werden wir damit konfrontiert und müssen etwas tun. Schaut, wir sorgen gemeinsam für die Hygiene in den Operationssälen, und ich denke, dass die meisten von uns sich nicht scheuen würden, einen Kollegen darauf anzusprechen, wenn er sich nicht die Hände wäscht. Das hoffe ich jedenfalls. Keiner sollte das als Vorhaltung auffassen, wir helfen einander vielmehr dabei, die Vorschriften einzuhalten. Und in Analogie zur Hygiene könnten wir vielleicht auch die Sorge um das psychische Wohlbefinden gestalten. Ich merke schon, ich beginne mich immer geschraubter auszudrücken. Das ist kein einfaches Thema.«
    »Wir sollten nicht anfangen, uns gegenseitig zu bespitzeln und zu kontrollieren«, sagt Kees. »Das wäre ein Schuss nach hinten, das sollten wir lieber bleiben lassen. Jeder von uns hat seinen Verantwortungsbereich, also respektiert auch jeder den Verantwortungsbereich seiner Kollegen.«
    »Aber wenn man nun sieht, dass es einem anderen nicht gutgeht«, entgegnet Berend. »Wir haben doch alle ein Leben außerhalb der Arbeit, mehr oder weniger. Man kann zu Hause ein krankes Kind haben oder Eheprobleme, Geldsorgen oder was auch immer. Ich frage schon manchmal nach, ob irgendetwas ist. Für mich ist das kein so großes Problem.«
    »Das ist Freundschaft und keine Kontrolle«, sagt Bibi van den Boogaart, eine kleine Frau mit indonesischen Zügen. Wenn man sie so sieht, im Schneidersitz auf ihrem Stuhl, würde man nicht denken, dass sie eine international renommierte Kinderanästhesistin ist. Unter ihrer OP-Haube schauen Strähnchen ihrer nahezu grauen Haare hervor, und sie hält in jeder Hand einen Keks. »Es steht doch jedem frei zu sagen: Misch dich da bitte nicht ein. Punkt, aus. Oder sollen wir es weitergeben, wenn wir einen bestimmten Verdacht haben?«
    »Ich weiß es nicht«, sagt Vereycken. »Ich suche. Dem Artikel zufolge sind wir ›Hilfemeider‹, wie die Autoren es nennen. Ärzte betrachten sich nicht so leicht als krank oder hilfsbedürftig. Wir suchen keinen Psychotherapeuten auf, wenn unsere Schwermut allzu lange anhält.«
    Tjalling setzt sich auf. »Man sieht das schon, wenn jemand abrutscht«, sagt er. »Ich habe das an meinem vorherigen Krankenhaus miterlebt. Ein Kollege, der immer dünner wurde und sich immer schlechter konzentrieren konnte. Er vergaß alles Mögliche. Und dauernd wollte er Nachtdienst machen. Opiatabhängigkeit, wie sich später herausstellte. Wir haben den Schlüssel zum Medikamentenschrank, sogar der Chirurg muss um Fentanyl bitten. Es wird uns auch leicht gemacht.«
    »Wie ist es mit diesem Mann ausgegangen?«, fragt Berend.
    »Er wurde erwischt. Reagierte nicht auf seinen Piepser, lag wie tot irgendwo im Flur und musste reanimiert werden. Überdosis. Soweit ich weiß, arbeitet er nicht mehr. Er war aber schon eine Weile stationär in

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