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Die Betäubung: Roman (German Edition)

Die Betäubung: Roman (German Edition)

Titel: Die Betäubung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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von selbst. Weil Vereycken sich mindestens einen Tag in der Woche ganz normal für den OP einteilen ließ, gewann er das Vertrauen der Kollegen, denn sie konnten sehen, wie er arbeitete. Nun achteten auch sie darauf, dass ihre Clogs sauber waren und keine Haare mehr unter der OP-Haube hervorschauten. Und sie waren pünktlich.
    »Tjalling wollte uns heute etwas über die Anwerbung von anästhesietechnischen Assistenten aus Indien erzählen«, sagt Vereycken. »Das ist ein aktuelles Thema, zu dem ich gern eure Meinung und eure Erfahrungen hören würde. Aber ich möchte es lieber auf nächste Woche verschieben, wenn du einverstanden bist, Tjalling.«
    Tjalling nickt, faltet den Zettel, den er gezückt hat, wieder zusammen und steckt ihn in seine Brusttasche.
    Suzan nimmt eine andere Sitzhaltung ein und greift zu einem Schokoladenkeks. Sich die Finger ableckend, blickt sie zufrieden auf ihre Beine. Sie hat schon ihre Straßenkleidung an, schwarze Strümpfe, hohe Absätze. Das fühlt sich elegant an. Was er wohl ansprechen will? Dass das kürzlich eingerichtete Time-out zur Absprache zwischen Operateur und Anästhesist kurz vor der Operation so oft weggelassen wird? Dass wir einen weißen Kittel über den OP-Anzug ziehen sollen, wenn wir den OP-Bereich verlassen? Dass dieser Nascheimer endlich aus dem Aufwachraum verschwinden muss? Er könnte das ruhig sagen, wir würden uns nicht angegriffen fühlen. Er hat ja Argumente: Es ist unhygienisch, alle grabbeln mit unsäglich versifften Fingern nach der Süßigkeit, die sie am liebsten mögen. Man malt sich besser nicht aus, was der jeweilige noch kurz zuvor mit diesen Fingern gemacht hat. Vielleicht führt er auch etwas anderes an, zum Beispiel, dass es nicht gerade von Solidarität mit den Patienten zeugt, wenn man sich etwas in den Mund schiebt, während sie nichts essen dürfen. Dann würden wir nachdenken und nicken. So würde das ablaufen.
    »Ich habe diese Woche einen Artikel in einer Zeitschrift gelesen, die vielleicht nicht zu eurer regelmäßigen Lektüre gehört«, beginnt Vereycken, »der Zeitschrift für Suizidforschung . Ein Kollege aus Antwerpen, mein Nachfolger dort, hat mich darauf aufmerksam gemacht. Ich bin da auf etwas gestoßen, was ich euch gerne unterbreiten möchte. Thema war eine schlichte beschreibende Untersuchung zur Suizidprävalenz in den verschiedenen medizinischen Fachgebieten. Wobei ich vor allem die von den Autoren empfohlenen Präventionsmaßnahmen bemerkenswert fand. Die Fakten sind ja nicht neu. Wir führen die Rangliste an! An zweiter Stelle folgen die Psychiater, dann die Hausärzte. Auch unter Zahnärzten ist die Ziffer hoch. Unsere weiblichen Kollegen sind besonders gefährdet. Ich finde das tragisch – und unerklärlich.«
    Er blickt freundlich in Suzans Richtung, und sie fühlt sich sofort angesprochen. Zu denen gehöre ich ganz sicher nicht, würde sie am liebsten sagen, ich würde das niemals erwägen, geschweige denn tun. Ihr Blick geht in die Runde, auf der Suche nach Simone, doch die schaut andächtig zu Vereycken auf.
    »Wir haben alle unsere Erfahrungen. Wohl fast jeder von uns bekommt im Laufe seiner Ausbildung oder danach irgendwann einmal mit, dass ein Kollege seinem Leben ein Ende setzt, die Wahrscheinlichkeit ist einfach sehr groß. Weil wir den nötigen Sachverstand haben, sind Selbstmordversuche immer erfolgreich, wenn man es so nennen darf. Die Rede ist also von einer durchaus häufigen, grausigen Begleiterscheinung unseres schönen Berufs. Dabei ist mir aufgefallen, dass dieses Phänomen kaum thematisiert wird. Wir reden einfach nicht darüber. Ist das Aberglaube? Will man es nicht beschreien? Oder machen wir uns wirklich keine Gedanken darüber? Unsere suizidalen Kollegen, die Psychiater, würden da wohl von Verdrängung sprechen. Ich finde das besorgniserregend.«
    »Die beste Prävention ist, dafür zu sorgen, dass die Arbeitsbedingungen gut sind«, sagt Ab. »Und die sind hier bei uns schon in Ordnung.«
    Es kommt zu einer Diskussion. Suzan hört zu und registriert da und dort ein Argument.
    »Die Arbeit ist belastend, man sieht Schreckliches, junge Menschen sterben einem unter den Händen weg.«
    »Man arbeitet unter Stress«, sagt ein anderer, »man muss sich gegen die Chirurgen behaupten, es ist ein ständiger Kampf.«
    Simone schaltet sich ein und spricht von der Verantwortung für die lebenswichtigen Funktionen eines anderen Menschen, wie unerträglich das sei, wenn man einmal darüber nachdenke.
    Eine junge

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