Die Betäubung: Roman (German Edition)
ohne dass man etwas tun kann. Danach wurde ein Mann hereingefahren, dem Gehirnflüssigkeit aus der Nase austrat. Sie mussten lange auf den Neurologen warten, der ein Kontrastmittel spritzen sollte. Als das endlich geschehen war, laborierte Ruud auf der Suche nach dem Leck mit Spiegeln und Lampen in der Rachenhöhle des Patienten herum, ohne etwas zu finden. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als abzubrechen und den Mann aufwachen zu lassen. Blutend und stöhnend wurde er wieder abtransportiert. So ist es den ganzen Tag weitergegangen. Operationen misslangen, und wenn sie nicht misslangen, fragte man sich, was man mit ihnen erreicht hatte und ob das Ergebnis wirklich das Elend wettmachte, das der Patient dafür in Kauf nehmen musste. Der letzte Eingriff war eine Tonsillektomie bei einem erwachsenen Mann. Ruud ließ seinen Assistenzarzt operieren, vorsichtig um den eingeführten Tubus herum. Der junge Mann hatte sich eine grelle Stirnlampe aufgesetzt, die Kabel hingen ihm unordentlich über die Schulter, der Akku steckte in seiner Gesäßtasche. Wieder und wieder versuchte er, die Gaumenmandeln zwischen den Blättern seiner blitzenden Zange einzufangen, aber es gelang ihm nicht, er sah nur Verwachsungen und Verklebungen. Der Schweiß brach ihm aus, und er bat darum, dass ihm jemand das Gesicht abtupfte. Zu guter Letzt nahm Ruud ihm die Zange aus der Hand. Der Patient hat viel zu stark geblutet, die Narkose hat zu lang gedauert, der Erfolg ist zweifelhaft.
So viel Arbeit, so viel Kummer, so wenig Hoffnung. Wie kann es nur sein, dass sie trotz alledem Zufriedenheit verspürt?
»Wir haben unser Bestes gegeben. Wir waren ein tolles Team«, sagt sie zu Tjalling. Er muss lachen.
»Das ist wirklich typisch für dich. Lausiges Produkt, aber erstklassiger Prozess, und damit bist du zufrieden. Wenn ich das nur könnte!«
Suzan zuckt die Achseln und schaut zur Sekretärin, die Teller mit Schokoladen- und Mandelgebäck zu den Thermoskannen stellt. Der Raum hat sich jetzt mit Kollegen gefüllt. Der Platz am Fenster bleibt frei, der ist für Vereycken.
»Der Professor hat eine Besprechung mit dem Vorstand des Klinikums«, sagt Livia, »er kommt gleich, er hat gerade angerufen.«
Suzan versucht, den Gedanken über Produkt und Prozess weiterzuspinnen. Ihr Produkt heute war schon gut, die Patienten hatten keine Schmerzen und wurden zur rechten Zeit wieder wach. Dass das Vorhaben des Operateurs nicht von Erfolg gekrönt war, dafür kann sie nichts. Oder ist ihr Produkt Teil des seinen? Ist ihre Tochter eigentlich das missratene Produkt eines befriedigenden Erziehungsprozesses? Daran mag sie jetzt nicht denken. Hier ist ihre Arbeit. Ich werde Peter heute Abend fragen, nicht jetzt darüber grübeln, denkt sie. Ich wollte Roos doch eine SMS schicken. Vergessen. Dumm.
Vereycken kommt herein und schaut sich erfreut um.
»Pardon, dass ich so spät bin«, sagt er. »Welch reger Zulauf, seid alle herzlich willkommen. Und greift bitte zu, Livias Leckereien sehen ja wieder mal verführerisch aus. Wir danken vielmals, Livia!«
Die Sekretärin geht errötend hinaus. Vereycken nimmt Platz. Seine Stattlichkeit verleiht ihm eine natürliche Autorität, die durch sein ernstes Gesicht und seine gepflegte Kleidung noch unterstrichen wird. Nicht pedantisch oder blasiert, denkt Suzan, sondern einfach gut. Nahezu einhellig sehen sie und ihre Kollegen in ihm den Retter der Abteilung, die unter ihrem vorherigen Kommandanten alle Merkmale eines sinkenden Schiffs hatte. Fachärzte, die nur noch ihr eigenes Ding im Blick hatten und sich nicht um Kollegen scherten, Weiterbildungsassistenten, die sich verloren vorkamen, ja regelrecht unglücklich waren, Mitarbeiter, die gleich zu Dutzenden kündigten. Keiner machte sich die Mühe, regelmäßig mit den Reinigungskräften zu sprechen, und infolgedessen waren die OPs nicht einwandfrei sauber. Medikamentenwagen wurden nicht aufgefüllt, in Dienstplänen wurde eigenmächtig herumgestrichen, auf die Einhaltung der Bekleidungsvorschriften wurde gepfiffen.
Vereycken ernannte als Erstes Ab Taselaar zum OP-Koordinator. Alle mögen Ab, sein Einsatz und Engagement sind über jede Kritik erhaben. Dann ließ der neue Chef Livia ein Festessen für alle seine Anästhesisten organisieren, bei dem er eine kleine Ansprache hielt, seine Pläne für die Weiterbildung erläuterte und sein Vertrauen in ihrer aller Kreativität zum Ausdruck brachte. Erst später sollte er dann die Zügel anziehen. Klug. Da ging es schon fast
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