Die Betäubung: Roman (German Edition)
Glastüren wirft er einen Blick in den Aufenthaltsraum, das »Wohnzimmer«, wo alte Leute in Rollstühlen hocken und ins Leere starren. Reiß dich zusammen, es muss jetzt sein! Dass diese Hölle existiert, heißt noch lange nicht, dass du selbst eines Tages darin landen wirst. Es ist nur dein Vater.
Weil er Hendrik de Jong nicht im Aufenthaltsraum sieht – er sitzt auch allein dort, wenn es nicht anders geht, während der Mahlzeiten beispielsweise, denn er hasst die Dudelmusik, die im Speisesaal immer viel zu laut angestellt ist –, geht er den Flur hinunter zum Zimmer seines Vaters. Dabei muss er am Büro der Pflegemanagerin vorüber. Die Tür steht sperrangelweit offen – hier herrschen schließlich Transparenz und ein von Wärme geprägter Führungsstil.
»Herr de Jong, da sind Sie ja endlich!«, ertönt es aus dem Büro, sowie die Frau ihn erspäht hat. »Ich hatte Sie schon viel früher erwartet.«
Drik ist sich sicher, dass sie seit Stunden auf der Lauer liegt, weil sie es kaum erwarten kann, ihm seine Versäumnisse unter die Nase zu reiben.
»Hätten Sie einen Moment Zeit für ein Gespräch unter vier Augen? Der regelmäßige Kontakt mit der Familie liegt uns sehr am Herzen, und ich hatte bisher so wenig Gelegenheit zu einem Gedankenaustausch mit Ihnen.«
Das wollen wir auch so halten, denkt Drik, dem nichts ferner liegt, als seinen Umgang mit Hendrik mit einer »Managerin« zu besprechen. Er findet die Frau dumm, egozentrisch und gehässig, und er glaubt nicht, dass sie irgendeine staunenswerte Beobachtung zu seinem Vater angestellt haben könnte. Garantiert ist er ihr vollkommen schnuppe, da bei Leuten wie ihr die ganze Leidenschaft darin besteht, das Pflegepersonal zu schikanieren und Besuchern Schuldgefühle zu machen.
Die Frau hat eine Akte aus dem Schrank genommen und beginnt, Sätze daraus vorzulesen. Herr J. sei zunehmend verwirrt, Herr J. neige dazu, sich in sein Zimmer zurückzuziehen, »und das dient unserer Meinung nach nicht den Interessen der Bewohner, die unser Anliegen sind und für die wir uns verbürgen«. Herr J. scheine wenig Anschluss bei seinen Mitpatienten zu haben.
Drik möchte von ihr wissen, welche Medikamente sein Vater bekommt und wie er darauf anspricht. Mit solchen Einzelheiten könne sie ihm nicht dienen, da müsse er dann schon mal in die Sprechstunde des Heimarztes kommen. »Doktor Gaarland bespricht sich gern mit der Familie, wie Sie zweifellos wissen werden.«
Drik erhebt sich, das muss er sich nicht länger antun. Der Besuch bei seinem Vater ist schon schlimm genug, und auf dieses spezifische Schlimme will er sich konzentrieren. Wut über Nebensächlichkeiten lenkt nur ab. Als spüre die Frau, dass er seine Aufmerksamkeit auf den eigentlichen Zweck seines Besuchs verlagert, feuert sie noch einen letzten Schuss ab, während er schon in der Tür steht, direkt unter einem Arrangement aus Tannenzweigen und Christbaumkugeln.
»Wissen Sie, die meisten Bewohner werden zu Weihnachten von ihren Kindern nach Hause geholt. Das ist auch ein Grund dafür, dass wir die Feier vorziehen. Wir möchten unseren Klienten das Eintauchen ins Familienleben nicht vorenthalten, wie Sie verstehen werden. In den vergangenen Jahren haben wir so viele Anfragen von den Familien bekommen, ob sie Vater oder Mutter zu den Feiertagen mit nach Hause nehmen dürfen. Diesen Bitten kommen wir gerne nach.«
Ja, denkt Drik, dann kannst du den Laden hier mit halber Belegschaft am Laufen halten und die eigentliche Arbeit die lieben Kinder machen lassen, die für diese erstklassige Pflege noch dazu ordentlich berappen dürfen. Trotz des in ihm aufwallenden Zorns reicht er der Frau die Hand.
»Dann wünsche ich schon mal frohe Feiertage«, sagt er.
Die Tür zu Hendriks Zimmer steht einen Spaltbreit offen. Wird wohl Vorschrift sein. Drik wirft einen letzten Blick den langen Gang hinunter, seufzt tief und drückt die Tür auf. Das kleine Zimmer wird von einem hohen Bett mit Absperrgittern dominiert. Am Fußende, wo das Fenster ist, hat gerade noch ein Sessel Platz. Neben dem Bett steht ein hoher Schrank für Kleidung und sonstige Habseligkeiten. Das war’s, das armselige Domizil seines Vaters. Keine meterlangen Bücherregale mehr, keine Stereoanlage, keine Schuh- und Stiefelreihen.
Der alte Mann steht vor dem Fenster und schaut nach draußen. Er hat Pantoffeln an den Füßen und trägt eine Drik unbekannte Bluse aus glänzendem Stoff. Es ist sehr warm im Zimmer. Drik tritt ein und schlägt laut die Tür
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