Die Betäubung: Roman (German Edition)
wir bis zu den Festtagen warten, wird das viel zu teuer, Herr de Jong – Gehaltszuschläge für das Personal, verstehen Sie –, und unsere Bewohner wissen meistens sowieso nicht so genau, welches Datum wir gerade haben. Wir machen es einfach so, haben wir beschlossen. Für Ihren Vater ist also in zwei Wochen schon Weihnachten.«
Drik hat sich einen Kommentar verkniffen und einen Besuchstermin vereinbart. Die Betreuung seines Vaters ist ganz passabel, so sein Eindruck, die jungen türkischen und surinamischen Pflegerinnen gehen lieb mit den überwiegend dementen Bewohnern um. Seine Wut richtet sich gegen die Führungsebene, die Leute, die nie eine Windel wechseln, aber Zigtausende einstreichen – für Berichte voll sinnloser Planungen, abgefasst in einer Sprache, die bei Drik negativste Empfindungen weckt. Sein Vater hat es gut, er hat ein Einzelzimmer, er darf im gesonderten Wintergarten jeden Mittag seine Zigarre rauchen, und die Pflegerinnen sprechen ihn mit seinem Namen an. Drik wird dieses Gleichgewicht nicht durch Beschwerden stören, selbst dann nicht, wenn die neuen Oberhemden seines Vaters schon nach der ersten Wäsche verschwunden sind. Suzan ist besser in diesen Dingen, sie geht seelenruhig ins Büro, um sich die Tageseinteilung anzusehen und zu kontrollieren, ob die angegebene Personalbesetzung auch tatsächlich zutrifft. Sie merkt sich die Namen der verantwortlichen Personen und spricht diese bei ihrem nächsten Besuch auf Vereinbartes an. Vor Suzan haben sie Respekt, sagen Frau Doktor zu ihr. Ihn halten sie für einen übellaunigen Nörgler, davon ist er überzeugt.
In seinem geräumigen Audi hat er Strawinskys Oedipus Rex laut gedreht. Er muss selbst darüber lachen, aber er findet diese Musik einfach toll. Und sie überdeckt das unheilverkündende Geräusch, das sein Auto in letzter Zeit von sich gibt. Mach endlich was, ruf die Werkstatt an, gleich morgen!
Weihnachten am 14. Dezember, es wird immer schöner. Was er selbst Weihnachten machen wird, weiß er noch nicht. Es wird wohl wieder darauf hinauslaufen, dass er zum Essen bei Peter und Suzan ist. Voriges Jahr war Hanna noch dabei, und alle wussten, dass es das letzte Mal sein würde. Es hat nicht wirklich geschmeckt.
Drik biegt von der Autobahn ab und fährt plötzlich durch einen Nadelwald. Bei einem Verkehrsschild mit querendem Hirsch geht er vom Gas herunter. Weihnachten rangiert weit oben auf der Stressskala – gut, Krieg ist schlimmer, der Tod des Partners, auch ein Umzug, aber gleich danach ist man auch schon unterm Christbaum angelangt. Im Kreise der Familie. Er merkt das in der Therapie: Ehepaare geraten sich über die Pflichtbesuche bei den Eltern in die Haare, Eltern schäumen vor Wut, weil sich die Kinder in den Skiurlaub absetzen, früheres Leid kommt wieder hoch, und alte Vorwürfe erhalten neue Nahrung, wenn das Jahr sich dem Ende zuneigt.
Wut und Schuld. Drik hat es sich zur Gewohnheit gemacht, alle seine Patienten beizeiten nach ihren Weihnachtsplänen zu fragen. Dann hat man noch Raum, auf die Konfrontationen vorzubereiten und die dazugehörigen Gefühle bewusstzumachen. Von der Familie, aus der man stammt, geht ein starker Sog aus, der Mensch wird in seine frühere Rolle zurückgeworfen, und meistens fühlt er sich wie eh und je machtlos, aus dieser Rolle auszusteigen. Wenn man mit ihm darüber redet, ihn dazu bringt, sich auszumalen, wie es beim Familienessen zugehen könnte, wird es ihm oft auch in der grimmigen Wirklichkeit möglich sein, auf das zurückzugreifen, was er sich in der Behandlung erworben hat. Zum ersten Mal lässt sich der Patient dann nicht mehr von einem rivalisierenden Bruder provozieren, zum ersten Mal zieht er sich bei unterschwelligen Vorwürfen seitens seiner Mutter nicht mehr gekränkt in sein Schneckenhaus zurück, zum ersten Mal muss er nicht mehr um die Anerkennung des Vaters buhlen, die er vor zwanzig Jahren hätte brauchen können. Das sind erfreuliche Dinge, und wenn so etwas gelingt, ist Drik glücklich über seinen Beruf.
Seinen Patienten bei der Gestaltung ihrer Weihnachtsfeiertage auf die Sprünge zu helfen ist eine Sache, diese Tage selbst befriedigend hinter sich zu bringen eine ganz andere. Drik ist nicht der Typ für eine Gruppenreise nach Feuerland. Einsam zu Hause sitzen und so tun, als wenn nichts wäre, kann er jetzt auch nicht. Also Familie.
Am Empfangsschalter des Altenpflegeheims riecht er es schon, dieses Gemisch aus Uringestank und synthetischem Tannenaroma. Durch die
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