Die Betäubung: Roman (German Edition)
Brustbereich, dort, wo er den Sicherheitsgurt umgelegt hatte. Keiner kann verstehen, was er sagt, er spricht irgendeine slawische Sprache. Endlich kommt ein Dolmetscher hinzu, der x-te Akteur auf der ohnehin schon überfüllten Bühne der durcheinanderschreienden Figuren. Mit vereinten Kräften drehen sie den Mann auf die Seite, um nachzusehen, ob womöglich ein Messer oder eine Kugel in seinem Rücken steckt. Das ist nicht der Fall. Er atmet, er hat einen Blutdruck, Suzan kann weg. Am Eingang zum Kaffeeraum begegnet sie Bibi.
»Kommst du mit mir essen, Suzan? Ich möchte kurz hier essen, bevor ich nach Hause gehe.«
Bibi sieht müde aus. Suzan begleitet sie ins Restaurant. Am Büfett lassen sie sich die Teller füllen: Reis, unidentifizierbares Gemüse, ein Stück Geflügelfleisch. Es schmeckt nach nichts, wie sie feststellen, als sie einander am Fenster gegenübersitzen.
»Diese nervigen Sitzungen machen mich unendlich müde«, sagt Bibi, »viel mehr als die normale Arbeit. Neue Systeme, Diagnose-Behandlungs-Kombinationen. Inwieweit uns das betrifft. Schwierig, schwierig.«
»Wir behandeln doch gar nicht«, findet Suzan, »außer in der Schmerzambulanz. Der Operateur behandelt, und wir ermöglichen es ihm. Wir sind unterstützend tätig. Ist doch so, oder?«
»Ein Produkt nennen sie das, die Versicherer.« Bibi sagt es missbilligend. »Tonsillektomie, Beinamputation, Darmresektion – das sind ›Produkte‹. Der Operateur schließt einen Behandlungsvertrag mit dem Patienten oder, wie es in meinem Bereich der Fall ist, mit dessen Eltern ab. Und danach liefert er das Produkt. Wie in irgendeinem Laden. Verkaufen wir eigentlich Produkte?«
Suzan denkt nach. »Was ist mit Vergessen? Könnte man darüber einen Vertrag abschließen?«
Dieser ganze Kram verderbe ihr Fach, meint Bibi. Schade, denn sie habe Spaß an der Arbeit und würde sie gern noch eine Weile weiter ausüben. »Die Schichtdienste, die wäre ich gerne los. Die werden mir in meinem Alter zu schwer. Die Sitzungen auch. Ich rege mich zu sehr auf. Und keiner versteht, worüber.«
Suzan glaubt, dass sich hier Einflüsse aus den USA bemerkbar machen. »Wenn der Patient einen Vertrag mit dir hat, kann er dich verklagen. Wenn du das Produkt nicht lieferst, bist du dran. Eh wir uns versehen, bezahlen wir uns an Versicherungen dumm und dämlich. Ich steck den Kopf in den Sand, solange es noch geht. Du bist leitende Oberärztin, du musst wohl oder übel.« Sie streicht Bibi über die kleine dunkle Hand. Bibi seufzt und schiebt den Plastikteller mit ihrem Essen von sich.
»Und geht es dir wieder einigermaßen, Suzan? Trauerst du noch sehr um deine Schwägerin?«
»Wenn ich arbeite, geht es mir gut. Und ich kümmere mich um meinen Bruder. Koche für ihn und so. Es ist schön, viel in Kontakt zu sein. Und etwas tun zu können. Aber ich muss mich vorsehen, er ist ganz anders als ich. Er ist Psychiater, denkt viel nach. Da lebt man ganz langsam, weißt du. Er geht allem auf den Grund. Ich trabe lieber weiter. Wenn es nach mir ginge, hätte ich ihm schon sein ganzes Haus neu geordnet, Hannas Sachen aussortiert, die Kleiderschränke leer geräumt. Nein, es ist gut, dass ich wieder arbeite. Ich weiß nicht, wie ich an Hanna denken soll. Es ist seltsam, wenn jemand stirbt, der genauso alt ist wie du selbst. Eigentlich glaube ich sogar, dass ich nicht sterben kann, weil ich Ärztin bin. Ich weiß, dass das Unsinn ist, klar, so denkt ein Kind, aber trotzdem habe ich das Gefühl, dass mir diese blaue Kluft irgendwie Schutz bietet.«
Sie verabschiedet sich von Bibi und eilt in den OP-Bereich zurück. Im Aufwachraum herrscht Unruhe. Der Gallenblasenmann will weg. Immer wieder richtet er sich an der Infusionsstange auf. Er hat die Bettdecke weggestrampelt, und mit entblößtem Unterleib versucht er, aus dem Bett zu steigen. Dabei reißt er an den Schläuchen und Kanülen, die in seinem Leib stecken. Winston steht bei ihm und bemüht sich vergeblich, ihn zu beruhigen.
Mit Oberpfleger Ron beratschlagen sie, was zu tun ist. Im Nascheimer sieht Suzan nur noch Lakritze und Bonbons, die keiner mag. Sie schiebt den Eimer hinter den Computer.
»Lasst es uns mit Haldol versuchen, fünf Milligramm.« Es ist fünf vor halb acht. »Geh ruhig nach Hause, Winston, wir sind fertig. Ich warte noch kurz auf Tjalling, dann gehe ich auch.«
»Ein toller Dienst war das, danke«, sagt Winston. »Bis morgen!«
»Wenn es nicht hilft, forderst du wohl am besten eine psychiatrische
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