Die Betäubung: Roman (German Edition)
Nachmittag.
»Sie müssen mich ins Gefängnis zurückbringen«, sagt Hendrik. »Wir haben nicht so lange Ausgang, wissen Sie.«
»Ja, wir kehren um«, sagt Drik, der Gefängniswärter. »Es wird Zeit.«
Sie gehen den Hang hinunter. Drik sieht sein Auto auf dem Parkplatz stehen. In Gedanken flitzt er schon die schmalen Straßen entlang. Nicht mehr lange.
»Mord, das bedeutet natürlich lebenslänglich«, brabbelt Hendrik. »Das lässt sich nicht ändern, damit finde ich mich ab. Es ist sehr schlimm für die Kinder. Ich bin ihnen kein guter Vater.« Er schluchzt auf.
Emotionale Inkontinenz, denkt Drik. Was erzählt er da eigentlich? Ist das Heim die Strafe für den Mord an seiner Frau? Er schaudert, als ihm bewusst wird, was sich sein Vater da zurechtgelegt hat, unter welcher Last er leben muss. Er weiß nicht, was er sagen soll. An der Eingangstür zieht er sein Taschentuch heraus und wischt Hendrik das Gesicht ab.
»So. Jetzt aber rein. Wir bekommen bestimmt Tee. Danach muss ich gehen.«
Im »Wohnzimmer« hat irgendwer die Adventsbeleuchtung angemacht und eine CD mit Weihnachtsliedern aufgelegt.
»Soll ich Ihnen den Tee aufs Zimmer bringen?«, fragt eine freundliche Pflegerin. Kurz darauf kommt sie mit zwei bauchigen Tassen und einer Schale Weihnachtskringeln. Drik rührt Zucker in Hendriks Tee und gibt ihm die Tasse in die Hand. Der Alte sieht ihn an.
»Diederik! Wie schön, dass du da bist! Das ist aber nett!«
So ein Mist, denkt Drik, gerade jetzt, wo ich weg will. Für ihn dauert mein Besuch fünf Minuten, während ich hier schon den ganzen Nachmittag herumhänge. Auf dem Tee liegt ein fluoreszierender Belag. Drik stellt seine Tasse weg. Es ist traurig, es ist ungerecht, aber so ist es nun mal. Alles hat seine Grenzen, und die Grenze dessen, was ich heute ertrage, ist jetzt erreicht. Er erhebt sich, um sich von seinem Vater zu verabschieden.
»Ich komme bald wieder«, sagt er heuchlerisch.
»Das ist gut, Junge, danke für deinen Besuch, das rechne ich dir hoch an.«
Drik sucht schleunigst das Weite.
Entkommen. Drik fährt zu schnell und flucht, als er an einer Ampel hinter einem Suzuki mit einer älteren Frau am Steuer halten muss. Auf der Autobahn gibt er Gas. Er würde am liebsten rennen, keuchen, schwitzen. Mit dem Audi zu rasen, der zudem laut klopft, ist ein armseliger Ersatz und befreit ihn nicht von seinen Gedanken. Introspektion, den Blick nach innen richten und nicht vor dem zurückschrecken, was du dort antriffst, so hat er es in seiner Ausbildung gelernt. Aber dazu hat er jetzt überhaupt keine Lust. Dessen ungeachtet schießen ihm die Gedanken durch den Kopf.
Wie die Ehe zwischen seinen Eltern war, was weiß er darüber? Wollte sein Vater überhaupt Kinder, oder nötigte ihn seine Frau dazu? Er war ein Vater auf Abstand, oft auf Reisen und, wenn er nicht auf Reisen war, oft in seinem Studierzimmer. Leida hatte in Sachen Erziehung freie Hand.
Ich weiß vor allem, dass ich weg wollte, denkt Drik, weg von diesem Tisch mit den schweigend kauenden Menschen. Für die Schule büffeln, um auf jeden Fall den Abschluss zu schaffen und möglichst schnell möglichst weit entfernt zu studieren. Suzan gab sich noch Mühe, sie erzählte interessante Sachen, um Vaters Aufmerksamkeit zu erringen. Sie half Leida, ohne zu murren, beim Abwasch. Und sie schluckte ihre Enttäuschung runter, wenn das alles nichts nützte. Als sie einmal stolz mit riesengroßen, erdverschmierten Möhren aus ihrem Schulgarten nach Hause kam, warf Leida diese wie selbstverständlich in den Abfalleimer – »die sind holzig«, sagte sie, er hört es noch genau. Auch das Gesichtchen Suzans sieht er noch vor sich, stumm und verbissen. An irgendetwas mit Bezug zu seiner Mutter entsinnt er sich nicht. Da war nur dieses eine Foto im Bücherregal.
Er hat mich erschreckt mit seinen unerwarteten Äußerungen. Als hätte er seine Frau von dieser Steilküste in die Tiefe gestoßen. Kann genauso gut ein Wunschtraum sein, womöglich war er rasend eifersüchtig auf die Kinder, es kommt sehr häufig vor, dass Männer mit Neugeborenen und Kleinkindern rivalisieren, als wären es Erwachsene. Die es einfach nicht ertragen, dass ihre Frau dem neuen Kind einen so großen Stellenwert einräumt. Er hat sie bestimmt gezwungen, eine Woche mit ihm zu verreisen, weil er hoffte, dass alles wieder so sein würde wie früher. Sie war vielleicht verzweifelt und wollte zurück zu ihrem Baby und ihrem kleinen Sohn, er war vielleicht wütend und tief
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